Verschwörung in Florenz
dem ganzen Saal mit über hundert Gästen außer ihm selbst nur noch eine einzige Person, nämlich sie. Und dann war es schließlich so weit. Mecidea stand mit dem Kelch vor ihr.
»Trinken Sie, Anne«, sagte er und reichte ihr das große rote Gefäß. Noch schmeichelte er, noch war er freundlich und sanft, doch sie war sicher, dass die Maske in dem Moment fallen würde, in dem sie sich weigerte. »Trinken Sie, und seien Sie in meinem Heim willkommen.«
Sie warf dem Diener, einem muskelbepackten Typen, der wohl im täglichen Leben als Rausschmeißer oder Bodyguard arbeitete, einen verzweifelten, Hilfe suchenden Blick zu. Aber unbeteiligt und emotionslos starrte er durch sie hindurch, als wäre sie nichts weiter als ein besonders langweiliges Hologramm. Von ihm war also keine Hilfe zu erwarten. Hastig sah sie sich im Saal um, doch keiner der anderen Gäste schien sie zu beachten. Offensichtlich setzte bei ihnen bereits die Wirkung der geheimnisvollen Droge ein, denn alle redeten und lachten lauter als zuvor. Giancarlo und sein Zwillingsharlekin sanken eng umschlungen auf eine Récamiere, und auch anderswo fanden Paare zueinander. Alle schienen sich plötzlich noch viel besser zu amüsieren. Welche Wirkung würde die Droge wohl auf sie haben? Anne sah zu Mecidea auf. Vielleicht konnte sie ihn doch mit Bitten und Flehen dazu bewegen … Doch sie gab es auf. Es war zwecklos. Wenn sie sich weigerte, würde der Diener sie festhalten und ihr den Trunk gewaltsam einflößen. Sie lächelte gezwungen und nahm das Gefäß in beide Hände. Und während sich ihre Gedanken überschlugen, während sie immer noch nach einem Ausweg aus dieser Lage suchte, zog der Kelch sie in seinen Bann.
Eigentlich war es gar kein Kelch, sondern eher eine große, tiefe Schale, die auf einem kräftigen Fuß stand. Er war wunderschön. Das geschliffene Kristall funkelte im Schein der Kerzen wie ein Juwel. Sein Alter war schwer zu bestimmen, doch Anne hatte das Gefühl, dass der Kelch alt war. Ähnlich wie der Spiegel der Wahrsagerin auf dem Markt. Es war, als hielte sie einen ungewöhnlich großen Rubin in ihren Händen. Kerzenlicht fiel durch das Glas und übergoss die Umgebung mit seiner Farbe, sodass ihre Hände und Ärmel aussahen, als wären sie mit Blut getränkt. Die Flüssigkeit darin verstärkte diesen Effekt noch. Sie war ebenfalls rot, rot wie frisch vergossenes Blut.
»Trinken Sie, Anne!«, wiederholte Mecidea, und diesmal klang es schon drängender, fordernder, eher nach einem Befehl.
Anne wurde klar, dass sie jetzt etwas tun musste. Sollte sie den Kelch einfach fallen lassen? Doch dann würde das kostbare Stück in tausend Scherben zerspringen. Ebenso gut hätte man von ihr verlangen können, die Mona Lisa zu vernichten. Nein, das würde sie nicht übers Herz bringen. Niemals. Die einfachste Lösung war, einfach nur so zu tun, als ob sie einen Schluck nehmen würde. Und wenn sie sich geschickt anstellte, würde kein Mensch etwas merken. Nicht einmal Mecidea.
Sie setzte den Kelch an die Lippen in dem festen Vorsatz, nicht zu trinken, was auch immer geschehen würde. Doch kaum hatte sie ihr Gesicht über die weite Öffnung des Kelches gesenkt, als ihr ein unglaublich köstlicher, ein verführerischer Duft in die Nase stieg. Es war der Duft von Veilchen und süßen Mandeln – der gleiche Duft, mit dem auch die Einladung parfümiert gewesen war; der gleiche Duft, den sie auf dem Marktplatz gerochen hatte. Und ehe sie sich’s versah, hatte sie auch schon einen Schluck getrunken. Im nächsten Augenblick war sie über sich selbst erschrocken. Ihre erste Regung war, alles wieder auszuspucken, ins Bad zu laufen und es auszuwürgen. Aber was dann geschah, übertraf einfach alles, was sie jemals erlebt hatte.
Ein überwältigender Geschmack von zarten Veilchen, süßen Mandeln und köstlichem Honig breitete sich in ihrem Mund aus. Dieser Geschmack streichelte ihren Gaumen, er kitzelte ihre Sinne, er weckte ihre Fantasie, sodass sie das samtene Dunkelviolett der Veilchen, das reine Elfenbein der frischen Mandeln und das klare Goldgelb des Honigs vor ihren Augen sehen konnte. Gleichzeitig verschwanden ihre Angst und ihre Zweifel von einem Moment zum anderen und machten einer gelassenen Heiterkeit Platz. Sie fühlte sich erleichtert, beschwingt, ja, vielleicht sogar berauscht.
Es ist also tatsächlich eine Droge, dachte Anne. Doch dieser Gedanke erschreckte sie nicht mehr. Im Gegenteil, sie war sich sicher, dass diese Droge, sofern es sich
Weitere Kostenlose Bücher