Versprechen eines Sommers
Vielleicht war es der Gedanke daran, dass Jenny, dieses nette, nichts ahnende Mädchen, ohne Vater aufgewachsen war und dann auch noch ihren Großvater in so jungen Jahren verloren hatte. Kein Wunder, dass sie versuchte, alte Familienerinnerungen und -rezepte zu bewahren.
Olivia beobachtete das Gesicht ihres Vaters und merkte, dass es noch einen Grund gab, warum sie sich so seltsam fühlte. Er hatte immer ein Schriftsteller sein wollen, sich aber dennoch für eine Karriere als Anwalt entschieden, weil das ein solider, praktischer Beruf war, wie es sich für einen Bellamy gehörte. Jetzt, wo sie den wahren Grund für die Hochzeit mit ihrer Mutter kannte, verstand sie auch, warum er seinen Traum begraben hatte. Und – okay, das war hässlich – sie verspürte einen kleinen Stich der Eifersucht, dass Jenny diese Leidenschaft mit ihrem Vater teilte.
Sie traten auf die überdachte und mit Mückennetzen versehene Veranda hinaus und setzten sich auf die Korbstühle, die um einen niedrigen Tisch herum standen. Hier wehte eine leichte Brise und machte die Hitze erträglich. Olivias Vater nippte nervös an seinem Eistee und stellte das Glas dann wieder hin. „Danke“, sagte er. „Ich entschuldige mich dafür, dass ich so mysteriös geklungen habe, als ich darum gebeten habe, Sie besuchen zu dürfen. Ich wusste einfach nicht, wie ich das Thema anschneiden sollte. Es gibt keinen leichten Weg, es zu sagen, Miss Majesky. Jenny.“
Irgendetwas in seinem Ton musste ihr einen Hinweis gegeben haben, denn sie umfasste die Armlehnen ihres Stuhls und schenkte ihm mit leicht zur Seite geneigtem Kopf ihre vollkommene Aufmerksamkeit. Spätestens jetzt wusste sie, dass dieses Treffen überhaupt nichts mit der Hochzeitstorte zu tun hatte. „Ja?“
„Ich habe keine Ahnung, wie viel Sie über die Situation wissen“, fuhr er fort. „Wenn ich es recht verstanden habe, ist Ihre Mutter fort.“
Jenny nickte. Eine kleine Falte erschien auf ihrer Stirn. „Ja, sie ging, als ich ungefähr vier Jahre alt war. Ich kann mich kaum an sie erinnern.“
Oh Gott, dachte Olivia. „Und sie hat sich nie bei Ihnen gemeldet? Niemals angerufen oder einen Brief geschrieben?“
Jenny schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren unglaublich dunkel und traurig. „Ich nehme an, dass Sie mit diesen Fragen etwas bezwecken?“
„Ich kannte sie“, sagte Philip. „Mariska und ich waren … Sie war im Sommer des Jahres 1977 meine Freundin. Hat Ihre Großmutter Ihnen das je erzählt?“
Ein kleiner Schweißtropfen rann an Jennys Schläfe hinunter. Die Traurigkeit verließ ihre Augen und wurde durch Misstrauen ersetzt. „Nein. Hätte sie das gesollt?“
„Das weiß ich nicht.“ Er ballte seine Hände zu Fäusten und löste sie wieder. Er schwitzte jetzt auch. Olivia konnte den Blick nicht von den Gesichtern der beiden abwenden.
„Ich … in letzter Zeit sind einige Dinge ans Licht gekommen“, erzählte Philip weiter. „Und ich … nun ja, ich habe mich gefragt, ob man jemals mit Ihnen über Ihren Vater gesprochen hat. Ihren biologischen Vater.“
Der Wind flaute ab. Zumindest kam es Olivia so vor. Alles stand still – der Wind, die Zeit, das Klopfen ihrer Herzen. Jenny schien eher erstarrt denn erstaunt. Ihre Gesichtsfarbe wurde deutlich blasser, während das Misstrauen in ihren Augen nicht schwand. Und auch wenn sie eine Fremde war, verspürte Olivia den Drang, sie zu berühren, ihre Hand zu nehmen oder wenigstens ihre Schulter zu tätscheln. Ich habe eine Schwester, dachte Olivia. Ich habe eine Schwester.
Philip unterbrach das Schweigen. „Es tut mir leid, dass ich hier einfach so aus heiterem Himmel hereinplatze und diese Dinge sage. Ich wusste nicht, wie ich mich anders hätte vorstellen können.“
Jenny stellte ihr Eisteeglas ab. Sie musterte Philip, schien sich jedes Detail genau einzuprägen, suchte nach den Ähnlichkeiten. „Wollen Sie mir sagen, dass Sie …“ Die Worte verebbten, als wenn Jenny es nicht über sich brachte, sie auszusprechen. „Das ist absurd. Ich habe keine Ahnung, warum Sie mir das alles erzählen.“
Philip reichte ihr das Foto von sich und ihrer Mutter. „Das hier haben wir kürzlich unter meinen alten Sachen gefunden. Es ist am Ende des Sommers 1977 aufgenommen worden. Den ganzen Sommer über waren wir so glücklich, wie man nur sein kann. Zumindest hatte ich das geglaubt. Ich habe Ihre Mutter sehr geliebt und hatte vor, sie zu heiraten.“
Jenny betrachtete das Bild, und ein Ausdruck puren Schmerzes huschte
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