Versprechen eines Sommers
patrizischen Ausdruck ihres Gesichts, als sie ihn anschaute, in dem kleinen Grübchen in ihrem Kinn und der eleganten Haltung ihrer Hand auf dem Türknauf.
„Ich bin Philip Bellamy“, sagte ihr Vater. „Danke, dass Sie uns empfangen.“
„Herzlich willkommen“, erwiderte Jenny. „Ich gebe zu, Ihr Anruf hat mich ein wenig überrascht. Wenn es um die Hochzeitstorte geht, kann ich Ihnen versichern, dass …“
„Nein, darum geht es nicht“, sagte er. „Können wir reinkommen?“
„Oh, natürlich. Wie geht es Ihnen, Olivia?“ Jenny trat zur Seite und hielt die Fliegengittertür weit auf.
„Gut, danke.“ Olivia versuchte zu entscheiden, ob sie wie Schwestern aussahen, aber der Gedanke war so überwältigend, dass sie in Jenny nichts anderes sehen konnte als eine gut aussehende, nichts ahnende Frau.
Ein Ventilator am Fenster blies frische Luft in ein Zimmer, das mit Schnickschnack und altmodischen Möbeln vollgestopft war. In einem Rollstuhl saß eine alte Frau in einem Hauskleid und mit pinkfarbenen Socken. Ihre Haare waren sorgfältig frisiert, und man hatte ihr einen Hauch Lippenstift aufgetragen. Am Telefon hatte Jenny erklärt, dass ihre Großmutter, die seit zehn Jahren Witwe war, einen Schlaganfall erlitten hatte und seitdem weder sprechen noch laufen konnte. Olivias Herz zog sich zusammen, als sie an ihre eigenen Großeltern dachte – sowohl die Bellamys als auch die Lightseys –, die alle noch so vital und glücklich zusammen waren. Sie versuchte, sich von früher an Mrs Majesky zu erinnern, aber sah immer nur den Lieferwagen mit dem handgemalten Bild auf der Seite vor sich. Sie wünschte, aufmerksamer gewesen zu sein. Es war irgendwie komisch, zu denken, dass sich ihre und Jennys Wege vielleicht in der Vergangenheit gekreuzt hatten, ohne dass sie voneinander wussten.
„Grandma, das sind Philip und seine Tochter Olivia Bellamy“, sagte Jenny. „Du erinnerst dich an die Bellamys vom Camp Kioga.“
Der Mund der Frau zuckte, und sie gab ein undefinierbares Geräusch von sich.
„Mrs Majesky, schön, Sie zu sehen“, sagte Philip.
In den dunklen Augen der Frau schien Verständnis aufzuleuchten, als wenn sie hinter einer schalldichten Glaswand gefangen wäre. „Meine Großmutter will sie besuchen, wenn sie nächste Woche herkommt.“ Olivia nahm Mrs Majeskys Hand. Ihre dünne Haut war trocken und trotz der Wärme kühl.
„Ich dachte, wir könnten uns auf die rückwärtige Veranda setzen“, schlug Jenny vor. „Da ist es um diese Tageszeit schön schattig. Grandma, willst du uns Gesellschaft leisten?“
Mrs Majesky gab ein Geräusch von sich, das Jenny als Nein interpretierte. Olivia warf ihrem Vater einen Blick zu und sah, wie sich seine Schultern erleichtert entspannten. Jenny die Situation zu erklären war schwierig genug. Es aber vor ihrer Großmutter zu tun, wäre noch viel unangenehmer.
„Okay.“ Jenny nahm die Fernbedienung und stellte den Fernseher an. Dann ging sie voran in die altmodische Küche mit ihrer Arbeitsplatte aus Resopal und den Hängeschränken mit Glastüren, hinter denen das gute Geschirr zu sehen war. Sie füllte drei Gläser mit Eistee und stellte sie neben den Keksteller auf ein Tablett. „Zitronenstäbchen“, sagte sie. „Ich habe sie heute von der Hauptbäckerei in Kingston mitgebracht.“
Ein Laptop und ein Stapel Papiere bedeckten den Küchentisch. „Oh, wir haben Sie wohl gerade bei der Arbeit gestört“, sagte Philip.
„Nein, das ist keine Arbeit. Zumindest keine, die bezahlt wird.“ Sie neigte den Kopf, als wäre es ihr peinlich. „Ich habe nur ein wenig geschrieben.“
„Sie sind Autorin?“, fragte Philip.
„Ich schreibe eine … ich bin mir nicht sicher, wie man es nennt.“ Sie wirkte auf charmante Art verlegen. „Ich nehme an, man könnte es eine Sammlung von Kurzgeschichten nennen. Darüber, wie es war, in der Bäckerei meiner Großeltern aufzuwachsen. Und Rezepte. Einige von ihnen sind so alt, dass sie noch auf Schulpapier geschrieben sind, das meine Großmutter aus Polen mitgebracht hat.“ Sie zeigte auf einen Stapel mit brüchigen, vergilbten Zetteln, die in einer fremden Sprache beschriftet waren. „Grandma hat mir geholfen, einige von ihnen zu übersetzen, aber nach dem Schlaganfall …“ Jenny schob den Stapel vorsichtig beiseite. „Wie auch immer, das ist eines der Projekte, die ich vermutlich nie beenden werde.“
Aus einem Grund, den sie nicht benennen konnte, fühlte Olivia mit einem Mal eine Welle der Melancholie.
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