Versprechen eines Sommers
auf, nahm einen Müsliriegel heraus und ließ ihn mit zwei Bissen in seinem Mund verschwinden. Connor warf einen kurzen Blick auf den Inhalt des Rucksacks. Kleidung und eine erstaunliche Menge Bücher. Das Ding wog vermutlich eine Tonne, aber Julian trug ihn, als wenn er aus Luft wäre. Gut. Er würde seine Kraft diesen Sommer brauchen.
„Ich habe gute und schlechte Neuigkeiten für dich“, sagte Connor. „Die gute Nachricht ist, dass du deinen Sommer nicht im Jugendknast verbringen musst.“
„Und die schlechte?“
Connor legte einen Gang ein und ließ den Bahnhof hinter sich. „Die schlechte Nachricht ist, dass du den Sommer mit mir verbringst.“
16. KAPITEL
F ür Julian Gastineaux erreichte das Leben einen neuen Level der Unerträglichkeit, als er durch das Tor von Camp Kioga fuhr. Camp Kioga, wohin sich die Sommer zum Sterben verziehen, dachte er und sah sich verächtlich um. Es sah hier aus wie das Set eines Disneyfilms, die Art Ort, wo die weißen Leute aus dem Nichts anfangen, ein Lied zu schmettern.
Er war bisher nur ein Mal hier gewesen, in dem Sommer, als er acht Jahre alt war. Damals hatte er das Camp sogar noch als aufregendes Abenteuer angesehen. Damals wie heute war er weggeschickt worden, weil seine Mutter andere Dinge zu tun hatte, als sich um ihn zu kümmern, und sein Vater … Er dachte eine Minute nach. In dem Jahr hatte sein Vater sich eine Auszeit genommen. Wenn Julian sich recht erinnerte, war er nach Italien gegangen.
Die Leute seines Vaters, wie er sie nannte, lebten in einem vergessenen Kaff mit Holzbaracken und Lotteriebuden im Süden Louisianas. Sie freuten sich immer darüber, auf Julian aufzupassen, aber sowohl er als auch sein Vater passten nicht so recht dazu. Ein Professor von der Tulane und sein Sohn hatten wenige Gemeinsamkeiten mit dem Rest der Gastineaux-Familie, und als sein Vater in dem Sommer wegfuhr, sollte Julian bei seiner Mutter bleiben. Doch damals wollte sie ihn genauso wenig bei sich haben wie heute, also wurde Camp Kioga seine vorübergehende Heimat. Die Geschichte wiederholt sich, dachte er, nur war er dieses Mal weitaus wütender deswegen.
Als kleines Kind hatte ihn das Sommercamp umgehauen. Er war in einem alten, muffig riechenden Haus in New Orleans aufgewachsen, und die stärkste Erinnerung an seine Kindheit waren Stapel von vergilbten Büchern, die überall im Haus herumlagen. Alle Schreib- und Esstische waren mit Zetteln, Notizen, Tagebüchern und Kalendern vollgemüllt. Es lag direkt auf der Grenze eines Viertels, dass gerade so eben vornehm war, aber nur wenige Häuserlängen entfernt lag von einer Gegend, in der kluge Frauen nach Einbruch der Dämmerung nicht mehr alleine hinausgingen, einer Gegend, deren Besuch sein Vater ihm verbot – wenn er sich denn mal daran erinnerte, dass Julian ja auch noch da war.
Louis Gastineaux vergaß das oft, denn er war ein exzentrisches Genie. Er war ein gutgläubiger Streber, der seine Kugelschreiber in einem Etui in der Brusttasche trug, einen schlechten Haarschnitt und Brillengläser dick wie Flaschenböden hatte. Dazu hatte er einen brillanten Geist und die Persönlichkeit eines wahren Idioten. Das Einzige, was an Julians Vater nicht uncool war, waren seine schwarze Hautfarbe und seine Statur eines Footballspielers.
Julian hatte alles versucht, um die Aufmerksamkeit seines Vaters zu wecken, aber nichts hatte jemals funktioniert. Weder seine Einserzeugnisse noch ständiges Schuleschwänzen. Wenn er versucht hatte, eine Krankheit oder Verletzung vorzutäuschen, war ihm die selbst verordnete Bettruhe meistens schon langweilig geworden, bevor sein Vater überhaupt etwas davon mitbekommen hatte.
„Ich bin gleich bei dir“, pflegte Louis Gastineaux zu sagen, das Gesicht vom dumpfen Schein des Computermonitors erhellt. Obwohl seine wissenschaftlichen Berechnungen bis zur elften Nachkommastelle stimmten, hatte der Mann keine Ahnung davon, wie lange „gleich“ sein sollte. Professor Gastineaux fühlte sich in dem Universum innerhalb seines Computers viel wohler als in der alltäglichen Welt, wo man an Pausenbrote und Elternabende, Geburtstage und den Einkauf von Lebensmitteln denken musste. Manchmal schien er komplett zu vergessen, dass er einen Sohn hatte.
Julian unterhielt sich selber, indem er das Abenteuer suchte. Er kletterte an die höchsten Orte – Baumwipfel und Feuerleitern, hohe Brücken und Schaukeln. Er lernte, das Gefühl der durch seinen Körper schießenden Angst zu genießen und sich nach dem
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