Verstand und Gefühl
sie
nicht Elinor
war, als ein Kompliment für sie selbst erschien – und daß sie sich ermutigt glauben konnte durch einen Vorzug, der ihr nur gegeben wurde, weil ihre wahre Lage nicht bekannt war. Doch daß Lucy dies tatsächlich glaubte, war ihr nicht nur zu der Zeit schon an den Augen abzulesen, sondern sie erklärte es am nächsten Morgen auch noch einmal ganz offen; denn auf ihren besonderen Wunsch setzte Lady Middleton sie in Berkeley Street ab, damit sie Elinor, falls diese allein zu sprechen |260| wäre, sagen könne, wie glücklich sie sei. Es erwies sich, daß sie Glück hatte, denn eine Botschaft von Mrs. Palmer bald nach ihrem Erscheinen schickte Mrs. Jennings fort.
»Meine liebe Freundin«, rief Lucy, sobald sie allein waren, »ich komme, um zu Ihnen über mein Glück zu sprechen. Konnte denn etwas schmeichelhafter sein als die Art, wie mich Mrs. Ferrars gestern behandelte? So überaus freundlich, wie sie war! Sie wissen, was für ein Grauen ich vor dem Gedanken hatte, ihr zu begegnen; doch vom ersten Augenblick an, als ich ihr vorgestellt wurde, lag eine solche Freundlichkeit in ihrem Verhalten, die tatsächlich zu besagen schien, daß sie wirklich Gefallen an mir gefunden hatte. War es nicht so? Sie haben doch alles gesehen; waren Sie nicht auch ganz erstaunt darüber?«
»Sie war gewiß sehr höflich zu Ihnen.«
»Höflich! Haben Sie denn nichts als Höflichkeit gesehen! Ich habe sehr viel mehr gesehen – eine solche Freundlichkeit, wie sie niemandem außer mir zuteil wurde! Kein Hochmut, keine Arroganz, und Ihre Schwägerin ganz genauso – nur Liebenswürdigkeit und Güte!«
Elinor wollte gern von etwas anderem sprechen, doch Lucy drängte sie weiter zuzugeben, daß sie Grund zum Glücklichsein habe, und Elinor war genötigt, mit dem Thema fortzufahren.
»Hätten die beiden von Ihrer Verlobung gewußt«, sagte sie, »wäre zweifellos nichts schmeichelhafter für Sie gewesen als die Art, mit der Sie von ihnen behandelt wurden; doch da dies nicht der Fall war ...«
»Ich dachte mir schon, daß Sie das sagen würden«, erwiderte Lucy rasch, »aber es gab doch nicht den geringsten Grund, warum Mrs. Ferrars zeigen sollte, daß sie mich mag, wenn es nicht wirklich der Fall ist – und daß sie mich mag, bedeutet mir alles. Sie können mir meine Genugtuung nicht ausreden. Es wird bestimmt alles gut werden, und es wird überhaupt keine Schwierigkeiten geben, wie ich es immer geglaubt habe. Mrs. Ferrars ist eine bezaubernde Frau, und auch Ihre Schwägerin. Beide sind wirklich ganz reizend!– |261| Ich wundere mich, daß ich Sie niemals habe sagen hören, wie liebenswürdig Mrs. Dashwood ist!«
Darauf hatte Elinor nichts zu sagen, und sie versuchte es auch nicht.
»Sind Sie krank, Miss Dashwood? Sie scheinen bedrückt – Sie sagen gar nichts – bestimmt geht es Ihnen nicht gut.«
»Mir ging es nie besser.«
»Das freut mich von ganzem Herzen; aber wirklich, Sie sahen nicht so aus. Es würde mir so leid tun, wenn Sie krank wären – Sie, die Sie mir der größte Trost in der Welt gewesen sind! – Weiß der Himmel, was ich ohne Ihre Freundschaft gemacht hätte.«
Elinor versuchte, eine höfliche Antwort zu geben, doch sie zweifelte, daß es ihr gelingen würde. Aber Lucy schien zufrieden, denn sie erwiderte sofort darauf: »Ich bin wirklich vollkommen überzeugt von Ihrer Freundschaft für mich, und gleich nach Edwards Liebe ist das mein größter Trost. Armer Edward! Aber jetzt gibt es wenigstens
etwas
Gutes – wir werden uns treffen können, und zwar ziemlich oft, denn Lady Middleton ist begeistert von Mrs. Dashwood; wir werden also bestimmt ziemlich viel in Harley Street sein, und Edward verbringt doch seine halbe Zeit bei seiner Schwester – außerdem werden Lady Middleton und Mrs. Ferrars jetzt einander besuchen; und Mrs. Ferrars und Ihre Schwägerin waren so liebenswürdig, mir mehr als einmal zu sagen, daß sie sich immer freuen würden, mich zu sehen. Es sind ja so reizende Frauen! Wenn Sie jemals Ihrer Schwägerin erzählen, was ich von ihr denke, können Sie das gar nicht lobend genug tun.«
Elinor gab ihr jedoch keinerlei Anlaß zu der Hoffnung, daß sie ihrer Schwägerin das wirklich sagen würde.
Lucy fuhr fort: »Ich hätte es bestimmt sofort gemerkt, wenn Mrs. Ferrars mich nicht gemocht hätte. Wenn sie mich zum Beispiel nur mit einem förmlichen Knicks begrüßt hätte, ohne ein Wort zu sagen, und nie wieder Notiz von mir genommen und mich
Weitere Kostenlose Bücher