Verstand und Gefühl
hatte sie früher in Stanhill auch besucht, doch es war zu lange her für seine jungen Verwandten, um sich an ihn zu erinnern. Er hatte ein ganz und gar gutmütiges Gesicht, und seine Umgangsformen waren ebenso freundlich wie der Stil seines Briefes. Ihre Ankunft schien ihm wirkliche Befriedigung zu verschaffen und ihre Bequemlichkeit wirklich am Herzen zu liegen. Er sprach viel von seinem aufrichtigen Wunsch, daß sie mit seiner Familie einen lebhaften geselligen Umgang pflegen mögen, und drängte sie so herzlich, jeden Tag in Barton Park zum Dinner zu kommen, bis sie sich in ihrem Haus besser eingerichtet hätten, daß sie ihn – obgleich er seine dringenden Bitten mit einer die Grenzen der Höflichkeit überschreitenden Beharrlichkeit vorbrachte – nicht kränken konnten. Seine Gefälligkeit beschränkte sich jedoch nicht auf |37| Worte, denn schon eine Stunde, nachdem er sie verlassen hatte, kam ein großer Korb voll mit Gartenerzeugnissen und Früchten von Barton Park an, dem vor Ende des Tages ein Geschenk an Wildbret folgte. Er bestand außerdem darauf, alle ihre Briefe zur Post und von der Post für sie zu befördern, und wollte es sich nicht nehmen lassen, ihnen jeden Tag seine Zeitung zu schicken.
Lady Middleton hatte durch ihn eine sehr höfliche Nachricht überbringen lassen, wonach sie beabsichtigte, Mrs. Dashwood, sobald sie gewiß sein könne, daß ihr Besuch nicht ungelegen käme, ihre Aufwartung zu machen; und da auf diese Nachricht eine gleichermaßen höfliche Einladung folgte, wurde ihnen Ihre Ladyschaft am nächsten Tag vorgestellt.
Sie waren natürlich sehr begierig darauf, die Person zu sehen, von der ihr Wohlergehen in Barton in so hohem Maße abhängen mußte; und die Vornehmheit ihrer Erscheinung gefiel ihnen sehr. Lady Middleton war nicht älter als sechs- oder siebenundzwanzig Jahre; sie hatte ein schönes Gesicht, eine hohe, eindrucksvolle Gestalt und anmutige Manieren. Ihr Benehmen hatte all die Vornehmheit, an der es ihrem Gatten mangelte, doch hätte es sehr gewonnen, wenn ihm nur ein Teil seiner Freimütigkeit und Wärme eigen gewesen wäre; und ihr Besuch dauerte lange genug, um die erste Bewunderung etwas zu schmälern, da er ihnen zeigte, daß sie zwar vollkommen gebildet und wohlerzogen, doch reserviert und kalt war und außer den gewöhnlichsten Fragen und Bemerkungen nichts zu sagen wußte, das für sie sprach.
Unterhaltung war jedoch gar nicht nötig, denn Sir John war sehr redselig, und Lady Middleton hatte die weise Vorkehrung getroffen, ihr ältestes Kind mitzubringen, einen zarten kleinen Jungen von etwa sechs Jahren; das gab ein Thema, auf das die Damen im Notfall immer wieder zurückgreifen konnten, denn sie mußten nach seinem Namen und seinem Alter fragen, seine Schönheit bewundern und ihm Fragen stellen, die dann seine Mutter für ihn beantwortete; dabei drängte er sich zur großen Überraschung Ihrer Ladyschaft |38| an sie und hielt den Kopf gesenkt, und sie wunderte sich über seine Schüchternheit vor anderen Leuten, da er doch zu Hause Lärm genug machen konnte. Bei jedem förmlichen Besuch sollte eben ein Kind dabeisein, um Stoff für die Unterhaltung zu liefern. Im gegenwärtigen Fall brauchte es zehn Minuten, um zu entscheiden, ob der Junge mehr seinem Vater oder mehr seiner Mutter ähnelte, und in welchen speziellen Einzelheiten er schließlich beiden glich; denn jeder hatte natürlich eine andere Meinung, und jeder war erstaunt über die Meinung der anderen.
Den Dashwoods sollte bald Gelegenheit gegeben werden, Erörterungen über die übrigen Kinder anzustellen, da Sir John das Haus nicht verließ, ohne sich ihres Versprechens zu versichern, am nächsten Tag nach Barton Park zum Dinner zu kommen.
|39| Kapitel 7
Barton Park war etwa eine halbe Meile von Barton Cottage entfernt. Die Damen waren auf ihrem Weg durch das Tal nahe daran vorbeigekommen, doch zu Hause war es durch den Vorsprung eines Hügels vor ihrem Blick verborgen. Es war ein großes schönes Gebäude, und der Lebensstil der Middletons zeichnete sich gleichermaßen durch Gastfreundlichkeit und Eleganz aus – das erstere zur Befriedigung von Sir John und das letztere zu der seiner Gattin. Sie waren kaum jemals ohne einige Freunde, die bei ihnen im Hause logierten, und sie hatten mehr Gäste aller Art als irgendeine andere Familie in der Nachbarschaft. Es war notwendig für das Glück beider; denn wie verschieden sie in ihren Veranlagungen und ihrem Verhalten gegenüber anderen auch
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