Verstand und Gefühl
gemacht, hoffte, sie hätten ihr Herz nicht in Sussex zurückgelassen, und behauptete, sie erröten zu sehen, ob es nun stimmte oder nicht. Marianne ärgerte sich darüber um ihrer Schwester willen und sah so angelegentlich zu Elinor hinüber, um zu sehen, wie sie die Attacken ertrug, daß es dieser weit mehr Pein verursachte, als es eine so platte Neckerei wie die Mrs. Jennings’ tun konnte.
Colonel Brandon, der Freund Sir Johns, schien in seinem ganzen Wesen ebensowenig geeignet, sein Freund zu sein wie Lady Middleton seine Gattin oder Mrs. Jennings Lady Middletons Mutter. Er war still und ernst. Seine Erscheinung war jedoch nicht unerfreulich, trotz der Tatsache, daß er Mariannes und Margarets Meinung nach ein entschiedener alter Junggeselle war, denn er war bereits über fünfunddreißig |42| Jahre alt; doch obgleich sein Gesicht nicht schön war, so war doch sein Ausdruck gefühlvoll, und seine Manieren waren besonders vornehm.
Es gab an niemandem der Gesellschaft etwas, das ihn den Dashwoods zum geselligen Verkehr empfehlen konnte; doch die kalte Geistlosigkeit Lady Middletons war so abstoßend, daß im Vergleich damit der Ernst Colonel Brandons und selbst die lärmende Heiterkeit Sir Johns und seiner Schwiegermutter reizvoll waren. Lady Middleton schien nur munter zu werden, als ihre vier lärmenden Kinder nach dem Dinner hereinkamen, sie herumzerrten, an ihren Kleidern rissen und jeder Art von Unterhaltung ein Ende machten, außer über Dinge, die sie selbst betrafen.
Am Abend, als man entdeckte, daß Marianne musikalische Fertigkeiten besaß, bat man sie zu spielen. Das Instrument wurde geöffnet, alle warteten darauf, sich bezaubern zu lassen, und Marianne, die sehr gut sang, spielte auf ihre Bitte hin den größten Teil der Lieder durch, die Lady Middleton bei ihrer Heirat mit in die Familie gebracht und die dort möglicherweise seitdem an derselben Stelle auf dem Klavier gelegen hatten; denn Ihre Ladyschaft hatte dieses Ereignis damit begangen, daß sie das Klavierspiel aufgab, obgleich sie nach Aussage ihrer Mutter außerordentlich gut gespielt hatte und nach ihrer eigenen Aussage die Musik sehr liebte.
Marianne bekam für ihren Vortrag großen Applaus. Sir John tat nach jedem Lied laut seine Bewunderung kund, und ebenso laut unterhielt er sich mit den anderen die ganze Zeit, während sie sang. Lady Middleton rief ihn häufig zur Ordnung, wunderte sich, wie man sich auch nur einen Augenblick von der Musik ablenken lassen konnte, und bat Marianne, eben das Lied zu singen, welches sie gerade beendet hatte. Von der ganzen Gesellschaft hörte allein Colonel Brandon ihr zu, ohne in Verzückung zu geraten. Er erwies ihr nur die Ehre seiner Aufmerksamkeit; und sie empfand bei diesem Anlaß einen Respekt für ihn, den die anderen durch ihren schamlosen Mangel an gutem Geschmack mit Recht verscherzt hatten. Seine Freude an der Musik war, obgleich sie nicht zu dieser schwärmerischen |43| Wonne emporstieg, die allein mit der ihren im Einklang sein konnte, immerhin schätzenswert, wenn man sie mit der schrecklichen Gefühllosigkeit der anderen verglich; und sie war einsichtig genug zuzugestehen, daß ein Mann von fünfunddreißig sehr wohl über alle heftigen Gefühlsregungen und jede vorzügliche Fähigkeit, Vergnügen zu empfinden, hinweg sein konnte. Sie war durchaus bereit, dem fortgeschrittenen Lebensstadium des Colonels alle Zugeständnisse zu machen, die die Menschlichkeit erforderte.
|44| Kapitel 8
Mrs. Jennings war Witwe, mit einem beträchtlichen Wittum. Sie hatte nur zwei Töchter, die sie beide eine achtbare Ehe hatte eingehen sehen, und so hatte sie nun nichts anderes zu tun, als die ganze übrige Welt ebenfalls zu verheiraten. Um dieses Ziel zu erreichen, war sie, soweit ihre Möglichkeiten reichten, unentwegt aktiv, und sie ließ sich keine Gelegenheit entgehen, zwischen all den jungen Leuten ihrer Bekanntschaft Ehen zu stiften. Sie war bemerkenswert rasch im Entdecken von Zuneigungen, und es machte ihr Spaß, durch Andeutungen ihres Einflusses auf einen bestimmten jungen Mann das Erröten und die Eitelkeit so mancher jungen Dame hervorzurufen; und diese Art Scharfblick ermöglichte es ihr bald nach Ankunft der Dashwoods in Barton, mit Bestimmtheit zu verkünden, daß Colonel Brandon heftig in Marianne verliebt sei. Sie vermutete es schon fast am allerersten Abend, an dem sie zusammen waren, als er so aufmerksam zuhörte, während sie ihnen vorsang; und als der Besuch von den
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