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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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wurde; Sir John und Mrs.   Jennings waren allerdings nicht so zartfühlend; ihre Witzeleien machten so manche quälende Stunde für sie noch quälender. Doch eines Abends nahm Mrs.   Dashwood einen Band Shakespeare in die Hand und rief aus: »Wir haben ja
Hamlet
gar nicht zu Ende gelesen, Marianne; unser lieber Willoughby ging fort, bevor wir damit fertig waren. Wir werden es beiseite legen, damit wir, wenn er wiederkommt   ... Aber da können vielleicht Monate vergehen, bis
das
geschieht.«
    »Monate!« rief Marianne sehr verwundert. »Nein – nicht einmal Wochen.«
    Mrs.   Dashwood bedauerte, was sie gesagt hatte; aber Elinor war froh darüber, da es Marianne zu einer Antwort verleitet hatte, die so deutlich das Vertrauen in Willoughby und das Wissen um seine Absichten zum Ausdruck brachte.
    Eines Morgens, etwa eine Woche nachdem er die Gegend verlassen hatte, wurde Marianne schließlich dazu bewogen, sich ihren Schwestern bei ihrem üblichen Spaziergang wiederanzuschließen, statt allein umherzustreifen. Bisher hatte sie jede Gesellschaft bei ihrem Umherwandern sorgsam gemieden. Wenn ihre Schwestern auf den Hügeln entlanggehen |98| wollten, stahl sie sich sogleich fort zu den Wegen im Tal; wenn sie vom Tal sprachen, war sie rasch dabei, die Hügel hinaufzuklettern, und wenn die anderen dann aufbrachen, war sie nicht mehr zu finden. Doch schließlich wurde sie durch die Bemühungen Elinors daran gehindert, die eine solche ständige Absonderung gar nicht billigte. Sie gingen die Straße durch das Tal entlang, und das meist schweigend, denn Mariannes
Gemüt
ließ sich nicht lenken, und Elinor, die zufrieden war,
eine
Sache durchgesetzt zu haben, versuchte jetzt auch nicht, mehr zu erreichen. Jenseits des Tals, wo die Landschaft, wenn auch immer noch üppig, doch offener und weniger wild war, lag vor ihnen eine lange Strecke der Straße, die sie damals bei ihrer Ankunft in Barton entlanggekommen waren; und als sie diesen Punkt erreicht hatten, blieben sie stehen, um sich umzuschauen und eine Landschaft, die den Blick von ihrem Haus in der Ferne begrenzte, von einer Stelle zu erforschen, auf die sie bei all ihren Spaziergängen zufällig noch niemals gestoßen waren.
    Inmitten dieser Szenerie entdeckten sie bald eine lebende Gestalt; es war ein Reiter, der auf sie zukam. Nach wenigen Minuten konnten sie erkennen, daß es ein Herr war, und einen Augenblick später schrie Marianne begeistert auf: »Er ist es, wirklich – ich weiß es – er ist es!« und eilte ihm entgegen; doch Elinor rief: »Wirklich, Marianne, ich glaube, du irrst dich. Es ist nicht Willoughby. Der Mann ist nicht groß genug für ihn und hat nicht seine Haltung.«
    »Die hat er, doch, die hat er«, rief Marianne, »bestimmt hat er die – es ist seine Haltung, sein Mantel, sein Pferd. Ich wußte, daß er sehr bald kommen würde!«
    Sie lief ungeduldig weiter, während sie sprach; und Elinor ging schneller, um Schritt mit ihr zu halten und sie vor Peinlichkeit zu bewahren, denn sie war fast sicher, daß es nicht Willoughby war. Sie kamen bald auf dreißig Yard an den Herrn heran. Marianne sah erneut hin; zutiefst enttäuscht, drehte sie sich plötzlich um und eilte zurück; doch als sich in das Rufen ihrer beiden Schwestern, die sie zurückhalten wollten, eine dritte Stimme mischte, die fast ebenso bekannt |99| war wie die Willoughbys und die sie bat stehenzubleiben, wandte sie sich voller Überraschung um – und sah und begrüßte Edward Ferrars.
    Er war der einzige Mensch in der Welt, dem sie in diesem Augenblick verzeihen konnte, daß er nicht Willoughby war; der einzige, der ihr ein Lächeln abgewinnen konnte; und sie wischte ihre Tränen fort, um
ihn
anzulächeln, und über dem Glück ihrer Schwester vergaß sie eine Weile ihre eigene Enttäuschung.
    Er stieg ab, übergab sein Pferd dem Diener und ging zu Fuß mit ihnen zurück nach Barton, denn er war gekommen, um sie zu besuchen.
    Er wurde von allen mit großer Herzlichkeit begrüßt, doch besonders von Marianne, die ihn mit mehr Wärme und Freundlichkeit empfing als Elinor selbst. Marianne erschien das Zusammentreffen zwischen Edward und ihrer Schwester in der Tat nur als eine Fortsetzung dieser unerklärlichen Kälte, die sie schon so oft in ihrem Verhalten zueinander beobachtet hatte. Besonders auf Edwards Seite fehlte es an all dem, was ein Liebhaber bei einer solchen Gelegenheit sagen und mit seinem Blick ausdrücken sollte. Er war verlegen, schien sich kaum des Vergnügens bewußt,

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