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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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geschämt, ihrer Familie am nächsten Morgen in die Augen zu sehen, wenn sie nicht mit mehr Ruhebedürfnis aufgestanden wäre, als sie es beim Hinlegen hatte. Doch die Gefühle, die Gefaßtheit in ihren Augen zur Schande machten, verhinderten, daß sie je Gefahr lief, eine solche Schande auf sich zu laden. Sie war die ganze Nacht wach, und den größten Teil davon weinte sie. Sie stand mit Kopfschmerzen auf, war unfähig zu sprechen und nicht willens, etwas zu sich zu nehmen; ihrer Mutter und ihren Schwestern bereitete sie damit ständigen Kummer und machte ihnen jeglichen Versuch zu trösten unmöglich. Ihre Empfindsamkeit war überwältigend genug!
    Als das Frühstück beendet war, ging sie allein hinaus, wanderte im Dorf Allenham umher, gab sich der Erinnerung an vergangene Freuden hin und weinte fast den ganzen Vormittag über ihre jetzigen Leiden.
    Der Abend verging mit der gleichen Hingabe an ihre Gefühle. Sie spielte alle ihre Lieblingslieder durch, die sie Willoughby vorzuspielen pflegte, und ebenso alle Melodien, in denen sich ihre Stimmen am häufigsten vereinigt hatten; und dann saß sie an dem Instrument und starrte auf jede Notenzeile, die er für sie hingeschrieben hatte, bis ihr Herz so schwer war, daß ihre Traurigkeit nicht mehr größer werden konnte; und auf diese Weise nährte sie ihren Kummer jeden Tag aufs neue. Sie verbrachte ganze Stunden am Klavier, abwechselnd singend und weinend, wobei ihre Stimme oft völlig von ihren Tränen erstickt wurde. In Büchern ebenso wie |96| in der Musik suchte sie den Schmerz, den der Gegensatz zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart mit Gewißheit bot. Sie las allein das, was sie zusammen zu lesen pflegten.
    Ein so heftiger Kummer konnte allerdings nicht ewig genährt werden; er schwächte sich innerhalb weniger Tage ab und ging in eine ruhigere Schwermut über; doch ihre einsamen Wanderungen und stillen Meditationen, die sie täglich wiederaufnahm, riefen noch immer gelegentliche Ausbrüche von Kummer, so heftig wie je, hervor.
    Es kam kein Brief von Willoughby, und Marianne schien auch keinen zu erwarten. Ihre Mutter überraschte das, und Elinor wurde erneut unruhig. Doch wenn Mrs.   Dashwood es wünschte, konnte sie immer Erklärungen finden, die zumindest sie selbst befriedigten.
    »Bedenke, Elinor«, sagte sie, »wie oft Sir John unsere Briefe von der Post abholt und sie hinbringt. Wir waren uns ja schon einig, daß Geheimhaltung notwendig sein mag, und wir müssen zugeben, daß diese nicht gewahrt werden könnte, wenn ihre Korrespondenz durch Sir Johns Hände ginge.«
    Elinor konnte das nicht bestreiten, und sie versuchte darin einen ausreichenden Grund für das Schweigen zwischen den beiden zu sehen. Doch es gab ein Mittel, das so direkt, so einfach und ihrer Meinung nach so annehmbar war, um den wirklichen Stand der Dinge zu erfahren und augenblicklich alle Rätsel zu lösen, daß sie schließlich nicht umhinkonnte, es ihrer Mutter vorzuschlagen.
    »Warum fragst du nicht gleich Marianne«, sagte sie, »ob sie mit Willoughby verlobt ist oder nicht? Von dir, ihrer Mutter, und dazu einer so nachgiebigen und gütigen Mutter, könnte die Frage doch keinen Anstoß erregen. Sie wäre eine natürliche Folge deiner Liebe für sie. Marianne war doch immer völlig offenherzig, und ganz besonders dir gegenüber.«
    »Ich würde ihr um nichts in der Welt eine solche Frage stellen. Angenommen, sie wären tatsächlich nicht verlobt, welchen Schmerz würde ihr eine solche Frage zufügen! Auf jeden Fall wäre das gar nicht edelmütig. Ich würde nie wieder ihr Vertrauen verdienen, nachdem ich ihr ein Geständnis von |97| etwas abgenötigt hätte, das im Augenblick niemand erfahren soll. Ich kenne Mariannes Herz. Ich weiß, daß sie mich zärtlich liebt, und daß ich nicht die letzte sein werde, die von der Sache erfährt, wenn die Umstände deren Offenbarung erlauben. Ich würde nicht versuchen, das Vertrauen von irgend jemand zu erzwingen, viel weniger von einem Kind; denn Mariannes Pflichtgefühl würde sie daran hindern, mir eine Antwort zu verweigern, auch wenn sie sie nicht zu geben wünscht.«
    Elinor hielt diese Großzügigkeit für übertrieben, wenn man das jugendliche Alter ihrer Schwester bedachte, und drängte weiter in dieser Sache, doch vergeblich; vernünftiges Denken, Fürsorge, Umsicht, das alles ging in Mrs.   Dashwoods romantischem Zartgefühl unter.
    Es vergingen einige Tage, bis Willoughbys Name in der Familie vor Marianne wieder erwähnt

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