Verstand und Gefühl
sagen?«
»Nichts, denn du hast meine Antwort bereits vorweggenommen.«
»Dann hättest du mir also gesagt, daß es so gewesen sein könnte oder auch nicht. O Elinor, wie unbegreiflich sind deine Gefühle! Du glaubst eher an das Schlechte als an das Gute. Du würdest eher Kummer für Marianne und Schuld bei Willoughby erwarten, als eine Entschuldigung für den letzteren zu finden. Du bist entschlossen, ihn für schuldig anzusehen, weil er sich von uns weniger liebevoll verabschiedet hat, als es sonst seine Art war. Kann man ihm denn nicht zugestehen, daß er unachtsam und bedrückt war wegen der kürzlich erlittenen Enttäuschung? Soll man keine Wahrscheinlichkeiten akzeptieren, nur weil es keine Gewißheiten sind? Schulden wir dem Mann nichts, den zu lieben wir alle soviel Grund haben, und keinen Grund der Welt, schlecht von ihm zu denken? Sollten wir ihm nicht zugestehen, daß er Beweggründe haben könnte, die an sich unwiderlegbar sind, doch deren Geheimhaltung für eine Weile unvermeidlich ist? Und überhaupt, wessen verdächtigst du ihn denn?«
»Ich kann es selbst kaum sagen. Aber es ist unvermeidlich, daß bei einer solchen Veränderung, wie wir sie gerade bei ihm erlebt haben, ein Verdacht von etwas Unerfreulichem aufkommt. Es ist jedoch viel Wahrheit an dem, was du jetzt über die Zugeständnisse vorgebracht hast, die ihm gemacht werden sollten, und ich möchte in meinen Urteilen über jedermann unvoreingenommen sein. Willoughby mag ohne Zweifel sehr triftige Gründe für sein Verhalten haben, und ich will hoffen, daß es so ist. Aber es hätte Willoughby mehr ähnlich gesehen, wenn er sie sofort offen eingestanden hätte. Geheimhalten mag ratsam sein, aber trotzdem muß ich mich darüber wundern, daß er es auch wirklich tut.«
»Aber tadele ihn nicht dafür, daß er seinen Charakter verleugnet, wo es notwendig ist. Du gibst also wirklich zu, daß es berechtigt war, was ich zu seiner Verteidigung gesagt habe? – Ich bin froh darüber – dann ist er freigesprochen.«
|91| »Nicht ganz. Es mag in Ordnung sein, seine Verlobung (falls sie wirklich verlobt
sind
) vor Mrs. Smith geheimzuhalten – und wenn das der Fall ist, muß es für Willoughby höchst ratsam sein, sich im Augenblick nur wenig in Devonshire aufzuhalten. Aber das ist keine Entschuldigung, diese Tatsache vor uns zu verheimlichen.«
»Vor uns verheimlichen! Mein liebes Kind, beschuldigst du Willoughby und Marianne der Verheimlichung? Das ist in der Tat seltsam, wo deine Blicke sie täglich wegen ihrer Sorglosigkeit getadelt haben.«
»Ich brauche keinen Beweis für ihre Zuneigung«, sagte Elinor, »aber für ihre Verlobung brauche ich einen.«
»Ich bin vollkommen überzeugt von beidem.«
»Und doch hat keiner der beiden ein Wort darüber verloren.«
»Ich habe keine Worte gebraucht, wo ihre Handlungen so deutlich gesprochen haben. Hat er nicht mit seinem Verhalten Marianne und uns allen gegenüber zumindest während der letzten zwei Wochen deutlich erklärt, daß er sie liebt und als seine zukünftige Frau betrachtet und daß er für uns die Zuneigung eines nächsten Angehörigen empfindet? Haben wir einander nicht vollkommen verstanden? Hat er nicht täglich mit seinen Blicken, seinem Verhalten, seinem aufmerksamen und liebevollen Respekt um mein Einverständnis gebeten? Liebe Elinor, ist es möglich, ihre Verlobung anzuzweifeln? Wie kann dir ein solcher Gedanke nur kommen? Wie kann man annehmen, daß Willoughby sie, überzeugt wie er von der Liebe deiner Schwester sein muß, verlassen sollte, und das vielleicht für Monate, ohne von seiner Liebe zu ihr zu sprechen – daß sie sich trennen sollten, ohne sich ihres gegenseitigen Vertrauens zu versichern?«
»Ich gebe zu«, erwiderte Elinor, »daß jeder Umstand außer
einem
zugunsten ihrer Verlobung spricht, aber dieser
eine
ist das völlige Schweigen beider zu diesem Punkt, und für mich wiegt das fast schwerer als alles andere.«
»Das ist wirklich sehr seltsam! Du mußt in der Tat schlecht von Willoughby denken, wenn du, nach allem, was zwischen |92| ihnen ganz offen vorgegangen ist, die Beziehung, in der sie zueinander stehen, anzweifeln kannst. Hat er denn all die Zeit Theater gespielt in seinem Verhalten gegenüber deiner Schwester? Glaubst du wirklich, sie sei ihm gleichgültig?«
»Nein, das kann ich nicht annehmen. Er muß sie lieben, und er tut es auch, da bin ich sicher.«
»Aber mit einer seltsamen Art von Zärtlichkeit, wenn er sie mit solcher Gleichgültigkeit,
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