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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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solcher Sorglosigkeit hinsichtlich der Zukunft verläßt, wie du sie ihm zuschreibst.«
    »Denke bitte daran, meine liebe Mutter, daß ich die Sache niemals als sicher angesehen habe. Ich gebe zu, ich hatte meine Zweifel; aber sie sind geringer, als sie es einmal waren, und vielleicht werden sie bald ganz beseitigt sein. Wenn wir feststellen, daß sie einander schreiben, werde ich nichts mehr fürchten.«
    »Wirklich, ein gewaltiges Zugeständnis! Wenn du sie am Altar sähst, würdest du wohl schließlich vermuten, daß sie heiraten werden. Abscheuliches Mädchen! Aber ich benötige keinen solchen Beweis. Nichts ist meiner Meinung nach jemals vorgefallen, das Zweifel rechtfertigt; niemand hat versucht, etwas geheimzuhalten, alles ist gleichermaßen offen und freimütig geschehen. Was deine Schwester wünscht, kannst du nicht anzweifeln. Es muß also Willoughby sein, den du verdächtigst. Aber warum? Ist er nicht ein Mann von Ehre und Gefühl? Hat es denn Unbeständigkeit auf seiner Seite gegeben, die Besorgnis hervorrufen könnte? Kann er da falsch sein?«
    »Ich hoffe nicht, ich glaube es nicht«, rief Elinor. »Ich mag Willoughby, mag ihn ganz aufrichtig; und an seiner Rechtschaffenheit zu zweifeln kann für dich nicht schmerzlicher sein, als es für mich ist. Ich gebe zu, ich war erschrocken über sein verändertes Benehmen heute vormittag; er war nicht er selbst, als er zu uns sprach, und er erwiderte deine Freundlichkeit ohne jede Wärme. Doch all dies mag mit seiner augenblicklichen Lage zu erklären sein, wenn sie so ist, wie du angenommen hast. Er hatte sich gerade von Marianne verabschiedet |93| , hatte gesehen, wie sie ihn in heftigstem Kummer verließ; und wenn er sich aus Furcht, Mrs.   Smith zu kränken, verpflichtet fühlte, der Versuchung zu widerstehen, bald hierher zurückzukehren, und sich doch bewußt war, daß es, wenn er sagte, er ginge für einige Zeit fort, so scheinen würde, als treibe er ein unrühmliches, verdächtiges Spiel gegenüber unserer Familie   –, dann mochte er sehr wohl verlegen und verwirrt sein. In einem solchen Fall hätte ihm, so meine ich, ein klares, offenes Bekenntnis seiner Schwierigkeiten mehr zur Ehre gereicht, und es hätte auch seinem ganzen Charakter mehr entsprochen; aber so engherzige Einwände will ich gegen das Verhalten eines Menschen nicht erheben – nur weil ich anders urteile oder etwas anderes für recht und konsequent halte.«
    »Es ist ganz richtig, was du sagst. Willoughby verdient gewiß nicht, daß man ihm mißtraut. Obgleich wir ihn noch nicht lange kennen, ist er doch in dieser Gegend kein Fremder; und wer hat jemals etwas Nachteiliges über ihn gesagt? Wäre er in einer Lage, in der er unabhängig handeln und sofort heiraten könnte, wäre es vielleicht merkwürdig, daß er uns verlassen hat, ohne mir sofort alles einzugestehen; aber das ist nicht der Fall. Es ist eine Verlobung, die in einiger Hinsicht nicht glücklich begann, denn ihre Heirat muß in einer ganz ungewissen Ferne liegen; und selbst eine Geheimhaltung, soweit sie eingehalten werden kann, mag nun sehr ratsam sein.«
    Sie wurden durch Margarets Eintreten unterbrochen; und Elinor war nun frei, die Darstellungen ihrer Mutter zu überdenken, die Wahrscheinlichkeit vieler anzuerkennen und auf die Richtigkeit aller zu hoffen.
    Sie sahen Marianne erst wieder zum Dinner, als sie ins Zimmer kam und, ohne ein Wort zu sagen, ihren Platz am Tisch einnahm. Ihre Augen waren rot und geschwollen; und es schien, als hielte sie ihre Tränen selbst jetzt nur mit Mühe zurück. Sie vermied die Blicke aller, konnte weder essen noch sprechen; und nach einiger Zeit, als ihre Mutter in zärtlichem Mitleid schweigend ihre Hand drückte, verlor sie ihre so |94| mühsam aufrechterhaltene Fassung völlig – sie brach in Tränen aus und ging aus dem Zimmer.
    Diese tiefe Niedergeschlagenheit hielt den ganzen Abend an. Sie war außerstande, sich zu beherrschen, da sie auch nicht den geringsten Wunsch dazu hatte. Die kleinste Erwähnung von irgend etwas im Zusammenhang mit Willoughby überwältigte sie augenblicklich; und obgleich ihre Familie äußerst aufmerksam auf ihr Wohlbefinden bedacht war, war es ihnen – wenn sie überhaupt etwas sagten – unmöglich, jedes Thema zu vermeiden, das ihre Gefühle für ihn berührte.

|95| Kapitel 16
    Marianne hätte es für ganz unverzeihlich gehalten, hätte sie in der ersten Nacht, nachdem sie von Willoughby getrennt war, überhaupt schlafen können. Sie hätte sich

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