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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Baumbestand und das Tal wirkt heiter und anheimelnd – mit saftigen Wiesen und hier und da einigen verstreut liegenden schmucken Bauernhäusern. Sie entspricht genau meinen Vorstellungen von einer ausgezeichneten Landschaft, denn sie vereint Schönheit mit Nützlichkeit – und ich glaube gern, daß sie auch malerisch ist, weil Sie es behaupten. Ich kann mir leicht vorstellen, daß sie voller Felsen und Vorsprünge, bedeckt mit grauem Moos und Gebüsch ist, aber das macht keinen Eindruck auf mich. Für das Malerische fehlt mir das Verständnis.«
    »Ich fürchte, das ist nur zu wahr«, sagte Marianne, »aber warum sollten Sie sich dessen rühmen?«
    »Ich habe den Verdacht, daß Edward, um
eine
Art von Heuchelei zu vermeiden, hier in eine andere verfällt. Weil er glaubt, daß viele Leute vorgeben, mehr Bewunderung für die Schönheiten der Natur zu empfinden, als sie es wirklich tun, und er solche Prahlereien verabscheut, täuscht er bei ihrem Anblick eine größere Gleichgültigkeit und geringere Urteilsfähigkeit vor, als er besitzt. Er ist anspruchsvoll und möchte seine eigene Heuchelei haben.«
    »Es ist sehr richtig«, sagte Marianne, »daß die Bewunderung |110| von Landschaften zu einem bloßen Jargon geworden ist. Jeder gibt vor, mit dem Geschmack und der Gewähltheit desjenigen malerische Schönheit zu empfinden und zu beschreiben, der diese zuerst definiert hat. Ich verabscheue jegliche Art von Jargon, und manchmal habe ich meine Gefühle für mich behalten, weil ich keine Sprache fand, um sie in einer anderen als der gänzlich abgedroschenen und um allen Sinn gebrachten zu beschreiben.«
    »Ich bin überzeugt«, sagte Edward, »daß Sie all die Freude an einer schönen Aussicht, die Sie bekunden, auch wirklich empfinden. Doch dafür muß Ihre Schwester mir gestatten, nicht mehr zu fühlen, als
ich
bekunde. Ich liebe eine schöne Aussicht, doch nicht, weil sie den Anforderungen malerischer Schönheit entspricht. Ich mag keine krummen, gewundenen, verdorrten Bäume. Ich bewundere sie viel mehr, wenn sie groß, gerade und in ihrer vollen Blüte sind. Ich liebe keine verfallenen Landhäuser. Ich habe nichts übrig für Nesseln und Disteln oder Heideblüten. Ich habe mehr Freude an einem behaglichen Bauernhaus als an einem Wachturm – und eine Schar adretter, glücklicher Dorfbewohner gefällt mir besser als die prächtigsten Banditen der Welt.«
    Marianne sah Edward voller Verwunderung an, und ihre Schwester voller Mitgefühl. Elinor lachte nur.
    Das Thema wurde nicht weiter verfolgt; Marianne schwieg nachdenklich, bis plötzlich etwas Neues ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Sie saß neben Edward, und als er seinen Tee von Mrs.   Dashwood entgegennahm, glitt seine Hand so dicht an ihren Augen vorbei, daß sie an einem seiner Finger deutlich einen Ring mit einem Haargeflecht in der Mitte erkennen konnte.
    »Ich habe Sie noch nie zuvor einen Ring tragen sehen, Edward«, rief sie. »Ist das Fannys Haar? Ich erinnere mich, wie sie versprochen hat, Ihnen welches zu geben. Aber ich hätte gedacht, ihr Haar wäre dunkler.«
    Marianne sprach unbedacht aus, was sie wirklich empfand – aber als sie sah, wie sehr sie Edward beunruhigt hatte, konnte ihre eigene Verwirrung über ihre Gedankenlosigkeit nicht |111| von der seinen übertroffen werden. Er wurde über und über rot und erwiderte mit einem raschen Blick auf Elinor: »Ja, es ist das Haar meiner Schwester. Die Einfassung läßt den Farbton immer anders erscheinen, wissen Sie.«
    Elinor war seinem Blick begegnet, und sie sah gleichfalls befangen aus. Daß das Haar ihr eigenes war, davon war sie sofort ebenso überzeugt wie Marianne; der einzige Unterschied in ihren Schlußfolgerungen war, daß Marianne dies als ein freiwilliges Geschenk ihrer Schwester betrachtete, während sich Elinor klar darüber war, daß er es gestohlen oder sich durch eine List beschafft haben mußte, ohne daß sie es bemerkt hatte. Sie war jedoch nicht in der Stimmung, dies als eine Beleidigung anzusehen, und während sie so tat, als würde sie keine Notiz von dem Vorgefallenen nehmen, indem sie sofort über etwas anderes sprach, beschloß sie in ihrem Innern, fortan jede Gelegenheit zu nutzen, das Haar zu betrachten und sich Gewißheit zu verschaffen, ob es genau den Farbton ihres eigenen Haares hatte. Edwards Verlegenheit hielt einige Zeit an und ging schließlich in eine noch tiefere Geistesabwesenheit über. Er war den ganzen Vormittag besonders ernst. Marianne tadelte sich

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