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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Mutlosigkeit. Sie sind in trüber Stimmung und bilden sich ein, daß alle Menschen im Gegensatz zu Ihnen glücklich sein müssen. Aber denken Sie daran, daß der Schmerz, sich von Freunden zu trennen, zuweilen von jedem Menschen empfunden wird, was immer seine Bildung oder seine gesellschaftliche Stellung sei. Sie müssen nur wissen, was Sie glücklich macht. Sie brauchen nichts als Geduld – oder geben Sie ihr einen verheißungsvolleren Namen und nennen Sie sie Hoffnung. Ihre Mutter wird Ihnen rechtzeitig die Unabhängigkeit gewähren, an der Ihnen so viel liegt; es ist ihre Pflicht, und es wird, ja es muß, sie sehr bald glücklich machen, Sie daran zu hindern, daß Sie Ihre ganze Jugend in Unzufriedenheit vergeuden. Wie viel können nicht ein paar Monate bewirken!«
    »Ich denke«, erwiderte Edward, »daß ich noch viele Monate zu überstehen habe, bis etwas Gutes für mich herauskommt.«
    Wenn sich dieser Hang zur Mutlosigkeit auch nicht auf Mrs.   Dashwood übertragen konnte, so machte er ihnen allen doch den bald darauf stattfindenden Abschied noch schmerzlicher und hinterließ besonders bei Elinor ein unbehagliches Gefühl, das zu überwinden sie einige Zeit und Mühe kostete. Doch da sie entschlossen war, es zu überwinden, und sie nicht den Anschein erwecken wollte, daß sie mehr als die übrige Familie bei seinem Fortgang litt, machte sie sich nicht die Methode zu eigen, die Marianne bei einer ähnlichen Gelegenheit so bewußt angewendet hatte – nämlich ihren Kummer durch Schweigsamkeit, Einsamkeit und Untätigkeit zu steigern und zu festigen. Ihre Mittel waren ebenso verschieden wie ihre Ziele, doch waren sie bei beiden gleichermaßen geeignet, ihr Ziel schließlich zu erreichen.
    Elinor setzte sich, sobald er aus dem Haus war, an ihr Schreibpult und war den ganzen Tag emsig beschäftigt, suchte nicht, aber vermied auch nicht die Nennung von Edwards Namen, gab sich den Anschein, als interessiere sie sich für die Belange der Familie ebensosehr wie immer; und wenn sie mit |118| diesem Verhalten ihren eigenen Kummer auch nicht verringerte, so vergrößerte sie ihn auch nicht unnötig, und ihrer Mutter und ihren Schwestern blieb viel Besorgnis ihretwegen erspart.
    Ein solches Verhalten, so ganz das Gegenteil von ihrem eigenen, erschien Marianne nicht verdienstvoller, als ihr das eigene tadelnswert erschienen war. Die Sache mit der Selbstbeherrschung entschied sie sehr leicht – bei leidenschaftlichen Gefühlen war sie unmöglich, bei ruhigeren ohne Verdienst. Daß die Gefühle ihrer Schwester tatsächlich von einer ruhigen Art waren, wagte sie nicht zu bestreiten, obgleich sie errötete, es zuzugeben; und über die Stärke ihrer eigenen lieferte sie einen eindrucksvollen Beweis, indem sie trotz dieser demütigenden Überzeugung diese Schwester noch immer liebte und achtete.
    Ohne sich von der Familie auszuschließen oder das Haus zu verlassen – entschlossen, sie zu meiden und die Einsamkeit zu suchen – und ohne die ganze Nacht wach zu liegen, um sich Betrachtungen hinzugeben, fand Elinor, daß ihr jeder Tag genug Muße ließ, in jeder nur möglichen Weise, ganz nach ihrer jeweiligen Stimmung zu den verschiedensten Zeiten, an Edward und an sein Verhalten zu denken – mit Zärtlichkeit, Mitleid, Zustimmung, Tadel oder Zweifel. Es gab Augenblicke in Fülle, in denen, wenn auch nicht durch die Abwesenheit ihrer Mutter und Schwestern, so doch durch die Art ihrer Beschäftigungen, eine Unterhaltung zwischen ihnen nicht möglich und alle Voraussetzungen für das Gefühl des Alleinseins gegeben waren. Ihr Geist war zwangsläufig frei, ihre Gedanken wurden nicht von anderen Dingen in Anspruch genommen; und die Vergangenheit und die Zukunft mußten ihr dann – bei einem Thema, das ihr so sehr am Herzen lag – vor Augen sein, mußten ihre Aufmerksamkeit erzwingen und ihre Erinnerung, ihre Gedanken und ihre Phantasie gefangennehmen.
    Aus einer Träumerei dieser Art wurde sie, als sie eines Morgens, bald nach Edwards Abreise, an ihrem Schreibpult saß, durch die Ankunft einer Gruppe von Leuten gerissen. |119| Sie war zufällig ganz allein. Das Einschnappen der kleinen Pforte am Eingang zu dem grünen Vorgarten lenkte ihren Blick zum Fenster, und sie sah eine ganze Gesellschaft auf die Haustür zukommen. Zu ihr gehörten Sir John, Lady Middleton und Mrs.   Jennings; doch es waren noch zwei andere dabei, ein Herr und eine Dame, die ihr völlig unbekannt waren. Sie saß nahe am Fenster, und sobald Sir John sie

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