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Versteckt wie Anne Frank

Versteckt wie Anne Frank

Titel: Versteckt wie Anne Frank Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Prins , Peter Henk Steenhuis
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öffnete die Tür. Ich war mager und kahl geschoren, und erst als ich etwas sagte, erkannte er mich. Das Äußere kann sich verändern, aber die Stimme nicht. Er umarmte mich, rief seine Eltern: »Kommt schnell und schaut, wer hier ist!« Sie empfingen mich herzlich, sehr herzlich. Seit meiner Karte hatten sie auf mich gewartet. Mein künftiger Schwiegervater, der beim Roten Kreuz am Hauptbahnhof arbeitete, hatte täglich Ausschau nach mir gehalten. Meine künftige Schwiegermutter hatte vor dem Fenster gesessen und gewartet. »Ich habe zwei Kleider«, sagte sie. »Eines ist für dich.«
    Etwa vier Jahre zuvor, als ich in der Nähe der Rijnstraat mit dem Rad unterwegs gewesen war, hatte ich plötzlich begriffen, wie ernst die Situation eigentlich war.
    Aus großen Lautsprechern, die alle paar Hundert Meter in den Bäumen hingen, schallten Hitlers Worte: »Wir werden die Juden ausrotten, ausrotten, ausrotten.«
    Ich fasste damals einen Beschluss: Ich lasse mich nicht ausrotten. Gleichzeitig wurde mir auch klar, dass ich all dieser Gewalt kaum würde entgehen können.
    Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Krieg geduldig über mich ergehen lassen. Ich dachte: Wir dürfen nicht mehr auf der Straße spazieren? Dann spazieren wir eben nicht. Dann gehen wir eben nicht mehr ins Theater oder in den Lesesaal. Und nicht in die Geschäfte. Für mich waren all diese Maßnahmen Schikanen, mit denen man leben konnte. Richtig mit der Angst zu tun bekam ich es erst, als die Deportation en anfingen, als Juden also abgeführt und Familien auseinandergerissen wurden. Anfang Juli 1942 landeten die ersten Aufrufe in den Briefkästen, auch bei uns. Es waren raffinierte, vage Befehle, in denen außer dem Datum und dem Ort, an dem man sich melden musste, nur angegeben war, man müsse Kleidung, einen Becher und Besteck mitbringen.
    Ich war gerade sechzehn geworden. Ebenso wie viele Klassenkameraden gehörte ich zu der ersten Gruppe, die aufgerufen wurde: Juden zwischen sechzehn und fünfunddreißig Jahren. Die meisten folgten dem Aufruf. »Wir sind jung und stark«, sagten sie. »Wir werden hart arbeiten müssen, aber dem können wir nicht entgehen. Wir sind nun einmal registriert und man kennt uns.«
    Mein Vater war so verzweifelt, dass er zum Büro der deutschen Polizei ging, das für die Deportationen zuständig war. Zum erstbesten Deutschen, dem er begegnete, sagte er: »Meine Tochter darf nicht weggebracht werden.« Erstaunt sah der Mann ihn an, nahm den Aufruf und stempelte ihn ab: »Gesperrt bis auf Weiteres«, was bedeutete, dass ich vorläufig nicht deportiert wurde. So eine vorläufige Freistellung hieß Sperre . Als die Deportationen ihren Anfang nahmen, ließen manche Deutsche sich noch überrumpeln. Später war das unmöglich.
    Auch meine Eltern besaßen eine Sperre und wurden daher vorläufig nicht aufgerufen. Mein Vater war früher Diamantschleifer gewesen, und obwohl er schon seit Jahren anderer Arbeit nachging, vermuteten die Deutschen, Leute aus dem Diamantgewerbe könnten in der Zukunft vielleicht nützlich sein.
    Ich ging wieder zur Schule, einer Schule ausschließlich für jüdische Kinder. Unsere Klasse wurde immer leerer, weil meine Mitschüler nach und nach abtransportiert wurden oder untertauchten. Anfang Mai 1943 machte ich die schriftliche Abschlussprüfung – gemeinsam mit zwei anderen Kandidaten. Bei der mündlichen Prüfung ein paar Wochen später war ich die Einzige. Seltsamerweise fanden die zwölf Teilprüfungen, die an zwei aufeinanderfolgenden Tagen abgenommen wurden, ganz normal statt.
    Am Mittag des ersten Tages, nach den ersten vier Prüfungen, wartete Freddy an der Schulpforte auf mich. Meine Mutter hatte Besuch von den »Herren« bekommen, die mich abholen wollten. Offensichtlich war meine Sperre aufgehoben worden. »Bis auf Weiteres« bedeutet also: bis heute. An diesem Abend um acht Uhr würden sie wiederkommen. Sie hatten gesagt, sie würden meine Eltern und meine Schwester mitnehmen, wenn ich nicht da wäre.
    Während des Gesprächs mit Freddy ging der Luftalarm los. Alle suchten Schutz. Wir rannten in die Schule. Da hatte ich einen Einfall. Ich ging zum Direktor und erklärte die Situation, ich fragte ihn, ob er dafür sorgen könne, dass ich die übrigen acht Teilprüfungen am Nachmittag ablegen dürfe. Dem Direktor gelang es, alles zu organisieren. Als allerletzte Schülerin der Schule, als einzige Übriggebliebene der zwei Klassen, habe ich die Prüfung vollständig abgelegt. Eine kurze

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