Versteckt wie Anne Frank
Besprechung folgte, ich wurde hereingerufen und bekam mein Abschlusszeugnis.
An diesem Nachmittag habe ich nicht ernsthaft übers Untertauchen nachgedacht. Es war ein furchtbarer Gedanke, dass die »Herren« dann meine Eltern und meine Schwester mitnehmen würden. Und ganz abgesehen davon: Man konnte nicht einfach so untertauchen. Meine Mutter hatte es schon lange gewollt, aber mein Vater war dagegen gewesen. Aus Angst, denn wenn man geschnappt wurde, ging man »als Straffall auf Transport«. Die Deutschen taten alles, um einen glauben zu machen, man brauche sich vor nichts zu fürchten, wenn man sich nur an die Regeln hielt. Tat man das jedoch nicht, konnte man sich womöglich auf einen schlechten Ausgang gefasst machen. Dass es letztendlich das Ziel war, alle zu ermorden, damit hatten wir nicht gerechnet. Das war zu schrecklich.
Als ich mit meinem Abschlusszeugnis nach draußen kam, stand Freddy wieder an der Schulpforte. Er nahm mich mit zu seinen Eltern, wo wir etwas aßen. Kurz vor acht war ich zu Hause. Um fünf nach acht erschienen die »Herren«.
Beim Abschied waren meine Eltern fassungslos. Am Fenster winkte meine Schwester Via mir weinend nach. Bepackt mit einer Schultertasche und einem Rucksack folgte ich den Männern zur Polizeiwache, wo noch mehr verhaftete Juden waren. Wir verbrachten dort sitzend, halb auf den Stühlen hängend und auf dem Boden schlafend die Nacht.
Kurz bevor ich weggegangen war, hatte meine Mutter mir einen Ratschlag gegeben: Schließ dich einer Familie an. Vielleicht können sie dir helfen und dir Schutz bieten. Ich konnte ihren Rat befolgen. Auf der Polizeiwache traf ich eine Familie mit zwei jüngeren Kindern, die mich als ihre älteste Tochter »annehmen« wollte.
Am nächsten Morgen wurden wir zur Hollandsche Schouwburg gebracht, einem Theater, das bis kurz zuvor einer der wenigen Orte gewesen war, an denen Juden noch auftreten und als Publikum Vorstellungen besuchen durften. Jetzt war es eine Sammelstelle, an der fast alle Juden aus Amsterdam und der Umgebung vor ihrer Deportation vorübergehend gefangen gehalten wurden. Bei der Ankunft wurde von jedem Name und Adresse aufgeschrieben, damit die Deutschen genau wussten, wer sich im Theater befand. Dann konnten sie Listen erstellen, wer wann auf Transport gehen musste. Ich wollte nicht, dass sie mich registrierten, denn wenn sie nicht wüssten, dass ich dort war, würden sie mich auch nicht vermissen, wenn ich floh. Während alle sich aufstellten, schob ich meinen Rucksack einen Meter vor, dann ging ich zurück, um meine Schultertasche zu holen, die ich wieder einen Meter weiter abstellte. So ging ich geschäftig hin und her und gelangte schließlich unregistriert ins Theater.
Dort herrschte eine angespannte Stimmung, alle fragten sich ängstlich, wo sie landen würden. Ich fühlte mich sehr einsam, getrennt von meiner Familie und meinem Freund. Es gab nur wenige Toiletten, und für etwas zu essen musste man endlos Schlange stehen.
Im Theater bekam ich einen lieben Brief von meinen Eltern. An den Rand war eine Nummer geschrieben: 339. Diese Nummer hatte ich nicht vergessen; auf der Orteliusstraat 339 wohnten Truus und ihr Mann Floor, Bekannte meiner Eltern, die schon mehrfach angeboten hatten, uns eine Bleibe zu besorgen.
Ich wusste, dass im Theater ein Freund meines Cousins arbeitete, den alle Bullie nannten. Es vergingen ein paar Tage, bis ich ihn sah. Ich sprach ihn an: »Ich will hier raus.«
»Das wollen so viele«, sagte er.
»Aber ich bin nicht registriert.«
»Das ändert die Angelegenheit.« Er würde sich für mich einsetzen.
Ein paar Tage später kam Bullie zu mir. »Morgen gehst du weg. Um vier Uhr nachmittags ertönt ein Gong. Dann müssen die Kinder unter vierzehn Jahren sich in der Halle versammeln. Sie schlafen nicht im Theater, sondern gegenüber im Kinderhort. Du gehst mit ihnen nach drüben, tu so, als wärst du eine der Betreuerinnen. Du schläfst eine Nacht im Hort, und am nächsten Tag bist du weg.«
Am nächsten Morgen schlüpfte ich in meinen Schuh. Doch weil ich nervös und unvorsichtig war, riss die Naht an der Ferse. Im Theater war ein Schuhmacher, der anbot, den Schuh zu reparieren. Ich gab ihm den Schuh und er sollte ihn ein paar Stunden später zurückbringen. Doch das tat er nicht. Es war fast vier Uhr. Ich kam auf die Idee, meine »neue Familie« zu bitten, den Schuh zum Kinderhort zu schicken. Ich zog sie ins Vertrauen. Sie rieten mir dringend von der Flucht ab, da sie viel zu
Weitere Kostenlose Bücher