Versteckt wie Anne Frank
gefährlich sei. Aber ich sagte ihnen, ich sei fest entschlossen, worauf sie versprachen, ihr Bestes zu tun.
Der Gong ertönte und ich lief in die Halle. Ich war die Erste. Logisch, die Kinder wollten so lange wie möglich bei ihren Eltern bleiben. Da stand ich, an einem Fuß einen Schuh, am anderen nur eine Socke. Plötzlich drehte sich der Wachposten an der Tür um. »Was machen Sie da?«
Ich erstarrte. Ich konnte keine Antwort herausbringen, mich nicht bewegen. Der Mann sah mich an, sein Blick fiel auf meinen schuhlosen Fuß. Er zuckte die Schultern und wandte sich wieder ab. Dann kamen die Kinder und wir überquerten die Straße zum Kinderhort, wo ich die Nacht verbringen würde. Jetzt sofort wegzulaufen wäre viel zu gefährlich. Die Deutschen behielten uns scharf im Auge. Ein paar Stunden später besorgte ein Kurier wahrhaftig meinen Schuh.
Am nächsten Tag stand ich in aller Frühe auf der Straße. Im Hort hatte man mir erklärt, ich könne nicht einfach so davonschleichen. Um nicht von den Deutschen auf der anderen Straßenseite gesehen zu werden, musste man warten, bis die Straßenbahn Nummer vier vor dem Kinderhort anhielt. Fuhr die Bahn wieder ab, lief man nebenher und bog an der ersten Straße nach rechts. Es klappte. Da ging ich also, die Schultertasche ängstlich vor meinen Judenstern gepresst. Es war ein wunderschöner Morgen im Mai, und schnell wurde es wärmer. Ich trug einen dicken Wintermantel, den ich auf Rat meiner Mutter mitgenommen hatte.
Auf dem Weg zur Orteliusstraat verlief ich mich. Als ich Stunden später ankam, war niemand zu Hause. Eine Runde um den Block, noch mal klingeln. Keiner da. Eine gefährliche Situation. Würde ich angehalten, wäre ich bald wieder in der Hollandsche Schouwburg. Da fiel mir ein, dass Verwandte von uns eine Metzgerei in der Kinkerstraat hatten, in der Nähe der Orteliusstraat. Soweit ich wusste, waren Onkel Karel und Tante Martha noch nicht deportiert worden. Da sie ein »jüdisches Lokal« führten, einen Laden für und von Juden, besaßen auch sie eine Sperre.
Das Geschäft war geöffnet. Mein Onkel und meine Tante dachten ein Gespenst zu sehen, denn sie wussten, dass ich »abgeholt« worden war. Irgendwie benachrichtigten sie meine Eltern. Sie kamen, und wir trafen uns an diesem Nachmittag in der Wohnung über der Metzgerei. Zum letzten Mal.
Als ich um sechs Uhr abends wieder zur Orteliusstraat ging, waren Truus und Floor von der Arbeit nach Hause gekommen. Sie empfingen mich herzlich, ich fühlte mich willkommen. Floor ging noch ein paarmal zu meinem Elternhaus, um Sachen zu holen. Von ihrem letzten Geld kauften mir meine Eltern einen falschen Personalausweis. Leute aus dem Widerstand klebten mein Foto und meinen Daumenabdruck ein. Jetzt hieß ich Nancy Winifred Altman, in Indonesien geboren am 22. August 1924, zurzeit wohnhaft in Epe.
Floor und Truus wohnten in einer Dreizimmerwohnung. Eines der Zimmer bekam ich. Das war Luxus. Natürlich musste ich mich an die Regeln für Untertaucher halten: die Toilettenspülung nur betätigen, wenn jemand zu Hause war; wenn Besuch kam, sofort in mein Zimmer gehen; niemals die Tür öffnen, wenn es klingelte. Truus und Floor waren im Widerstand aktiv. Sie trugen unter anderem illegale Zeitungen aus. Eines Abends erwarteten sie einen großen Stapel. Truus war gerade kurz weg, als es klingelte – und gleich darauf noch einmal und noch einmal. Ich war mir fast sicher, dass es der Mann mit den Zeitungen war, die natürlich in Empfang genommen werden mussten. Aber ich durfte die Tür nicht aufmachen, niemals. Wie ich mich auch entschied, es würde Ärger geben. Ich öffnete die Tür nicht, und tatsächlich bekam ich mächtig Ärger, denn jemand vom Widerstand war mit einer gefährlichen Last wieder auf die Straße geschickt worden.
Wegen der vielen illegalen Tätigkeiten von Truus und Floor wurde es zu gefährlich, mich in der Orteliusstraat zu behalten. »Wenn wir geschnappt werden, haben sie dich gleich mit.« Sie suchten nach einer neuen Adresse für mich. Es folgten nicht weniger als fünfzehn Adressen. Immer wieder fragte ich mich aufs Neue, wie ich mich verhalten sollte. Was galt in dieser Familie als höflich, was störte sie?
Ich konnte mich glücklich schätzen, eine Fluchtadresse zu haben: bei den Eltern meines Freundes Freddy in der Rijnstraat. Im äußersten Notfall konnte ich zu ihnen. Freddy hatte einen jüdischen Vater und eine nichtjüdische Mutter. Juden in einer Mischehe waren vorläufig von der
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