Versteckt wie Anne Frank
Schiebetüren. An meinem Kopfende lagen noch drei Leute auf der Schrankdecke.
Die Deutschen kamen mit viel Lärm die Treppe herauf und stachen mit ihren Bajonetten in die Wand. Dann passierte genau das, was wir befürchtet hatten: Ein Bajonett bohrte sich durch die dünne Tapete über dem Schrank. Die drei neben mir waren entdeckt. »Raus!«
Einer nach dem anderen kletterte nach unten. Mich sahen sie nicht in dem schmalen Zwischenraum liegen. Nach einer Ewigkeit schaute ich mich um. Das Zimmer war leer.
Vater und Mutter hatten sich, zusammen mit zwei weiteren, auf der Weide versteckt. Auch sie kamen nach einer Weile wieder zum Vorschein. Alle waren ganz benommen, aber sie sagten immer wieder, wie tapfer ich gewesen sei.
Die letzten Wochen sprachen wir nur noch von der Befreiung. Vater hatte eine Europakarte aus einem Atlas gerissen, und überall, wo die Deutschen sich zurückzogen, steckte eine Nadel in der Karte. Alle Nadeln hatte er mit einem roten Faden verbunden. So konnten wir genau sehen, wie weit die Befreier noch von uns entfernt waren. Der rote Faden näherte sich immer mehr.
Und eines wunderbaren Morgens war es so weit. »Geh nur raus«, sagte Vater. »Raus? Ist der Krieg vorbei?«, fragte ich.
In unserer Straße war es ganz still. Steifbeinig ging ich Richtung De Biltstraat, wo ich eine Menge Leute sah. Überall hingen rot-weiß-blaue Fahnen. Genau vor unserer Straße standen deutsche Militärwagen voller Soldaten. Sie winkten mir zu, als ich vorbeiging. Einer von ihnen gab mir ein Zeichen, zu warten. Einen Moment später steckte er mir ein Rosinenbrötchen zu. Ich zweifelte, ob ich etwas von einem Deutschen annehmen durfte. Aber ich hatte großen Hunger, also aß ich es. Das Brötchen war köstlich.
Ein Stück weiter standen Tausende Menschen am Straßenrand. Überall die rot-weiß-blauen Fahnen. Ich drängte mich nach vorn. Plötzlich entstand Aufregung: Aus der Ferne näherte sich ein grüner Jeep. Zwei Soldaten saßen darin, umgeben von einer Menschentraube. Die Männer wurden geküsst und umarmt, jeder wollte sie anfassen. Der Jeep konnte nicht weiterfahren.
Dann ertönten schwere Motorgeräusche: ein Panzer mit einer großen Kanone. Die Leute traten einen Schritt zurück und der Jeep setzte sich wieder in Bewegung. Die Leute sprangen auf den Panzer, setzten sich auf den Kanonenlauf oder rannten nebenher. Weitere Militärfahrzeuge folgten. Ich wollte auch mitfahren, aber nirgends sah ich eine freie Stelle. Dann kam ein kleiner Lastwagen mit einem Anhänger vorbei. Ehe ich wusste, was ich tat, saß ich schon auf dem Holm zwischen Auto und Hänger. Langsam ging es voran, und ich winkte der Menge am Straßenrand zu. Großartig.
Ich bekam Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten und konnte nicht mehr winken. Ich wollte herunter. An einer Kurve beschloss ich abzuspringen, aber mein Hintern war eingeklemmt. Ich schrie laut. Mein Geschrei übertönte den anderen Lärm. Die Kolonne kam zum Stillstand und ich wurde befreit.
Wieder in Bussum musste das Haus, das uns die Gemeinde zuwies, ziemlich gründlich renoviert werden. Wir wohnten vorübergehend alle bei Tante Toni. Auch meine Schwester war als Untertaucher durch den Krieg gekommen. Onkel Jo hatte es nicht überlebt: Einen Tag vor der Befreiung war er an einem Herzinfarkt gestorben.
Es war nicht einfach, alle Sachen wiederzubekommen, die bei Freunden und Bekannten zurückgelassen worden waren. Keiner hatte erwartet, dass die Familie Sitters noch am Leben war.
Wir wohnten gerade wieder ein paar Wochen in Bussum, als unser schwarzes Klavier gebracht wurde. Kaum eine Woche später bekamen wir das kleine Klavier von Onkel Dee und Tante Floor. Ich spielte selten darauf.
Das dritte Klavier kam noch ein paar Wochen später, zusammen mit anderen Sachen von Onkeln und Tanten. Allmählich wurde klar, dass von all unseren Verwandten nur unsere Familie verschont geblieben war.
Morgen Früh, dann hole ich sie ab
Bloeme Emden,
geboren in Amsterdam am 5. Juli 1926
Nach der Befreiung, auf dem Rückweg in die Niederlande, habe ich eine Karte in die Rijnstraat in Amsterdam geschickt, wo ich untergetaucht war. Ich schrieb, dass ich Auschwitz überlebt hatte und auf dem Weg nach Holland war. Ein paar Wochen später kam ich an. Es war Abend, die Rijnstraat war kahl, alle Bäume waren abgeholzt und verheizt worden. Während ich die Treppe zur Wohnung der Familie van Moppes hochstieg, überlegte ich, was mich wohl erwarten würde. Freddy, mein Freund,
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