Versteckt wie Anne Frank
fast da, hielt ich das betreffende Kind ein wenig zurück, zeigte auf den Mann und sagte: »Da steht dein Onkel, er bringt dich zu einem Bauernhof.« Ich erfand irgendwas. Danach spazierte ich zurück und kam mit einem Kind weniger am Kinderhort an.
Meistens ging das gut, die Deutschen kontrollierten selten, mit wie vielen Kindern wir losgezogen waren und später wiederkamen. Trotzdem hielt immer jemand Wache, und wenn ein Deutscher vor der Tür stand, der womöglich doch gezählt hatte, bekam ich ein Zeichen. Mit der Hand machte ich dann ein Zeichen zurück: eins weniger oder zwei weniger. Die Wache eilte dann nach oben und einen Moment später rannten ein paar Kinder wie wild die Treppe runter und sprangen schon auf dem Gehweg herum, ehe der Deutsche anständig zählen konnte. Insgesamt sind über den Hort mindestens fünfhundert Kinder untergetaucht.
Als ich eines Tages mit einer Gruppe von Kindern die Treppe hinunterkam, betrat gerade ein Kurier das Gebäude. Er trug einen Stern und ein Armband mit einer Nummer vom Judenrat. An dem konnte man erkennen, dass er vorläufig von der Deportation freigestellt war. Das Band galt gleichzeitig auch als Erlaubnis, nach Sperrzeit auf der Straße zu sein. Wir sahen einander nur ganz kurz, denn die Kinder, die mucksmäuschenstill waren, mussten zu ihren Eltern nach gegenüber gebracht werden. In den Wochen darauf sah ich diesen Mann öfter, er hieß Harry. Es funkte zwischen uns, wir verliebten uns. So oft wie möglich versuchte Harry am Hort vorbeizuradeln und er verbrachte seine gesamte Freizeit bei uns. Ab und zu half er beim Schmuggeln von Kindern oder machte Spiele mit ihnen, um sie ruhig zu halten.
Wir heirateten am 28. Juni 1943 in unseren alten Sachen, unsere guten Kleider hatten wir woanders deponiert, sollten wir untertauchen wollen. Aber das wollte ich vorläufig noch nicht, ich wollte die Kinder nicht im Stich lassen.
Am 26. Juli 1943, Harry wohnte damals gerade ein paar Wochen bei mir auf dem Dachboden des Kinderhorts, räumten die Deutschen den Hort zum ersten Mal. Plötzlich standen ein paar Überfallwagen vor der Tür, holländische Polizei und Deutsche. Sie hatten eine Liste mit Namen der Hortmitarbeiter dabei, auch die Direktorin, Frau Pimentel, stand darauf. Ich konnte mir noch gerade eben ein Stück Kuchen und Brot vom Tisch schnappen, bevor wir zum Muiderpoort-Bahnhof gebracht wurden, von wo aus die Züge nach Westerbork abfuhren.
Wir saßen dort bis Mitternacht und keiner wusste, was geschehen würde. Plötzlich ertönte eine Lautsprecherdurchsage, Frau Cohen vom Kinderhaus solle sich melden. Von SS -Männern umzingelt musste ich in einen Überfallwagen steigen. Bis zu jener Nacht hatte ich keine Angst gekannt, aber dort, auf dem Bahnhof, überkam mich Todesangst. Was würde mit mir geschehen? Der Wagen hielt auf dem Frederiksplein an, dort wurde ich gezwungen in ein anderes Auto zu steigen. Um ein Uhr nachts rasten wir durch ein völlig ausgestorbenes Amsterdam. Sie setzten mich an der Schouwburg ab. »Und jetzt sind Sie Direktorin«. Das war Wahnsinn, ich war viel zu jung, um Direktorin zu sein. Zum Glück kehrte am nächsten Tag auch eine viel ältere Kollegin zurück, sie übernahm die Leitung.
Später hörte ich von Harry, der nicht da war, als der Hort geräumt wurde, dass er mir zum Bahnhof gefolgt war. Er hatte sich gedacht: »Entweder hole ich sie dort raus oder wir gehen zusammen auf Transport.«
Aber er hatte mich nicht finden können, weil ich schon wieder im Auto auf dem Weg zurück war. Zum Glück ist er da auch wieder zum Hort gegangen, wo wir uns trafen.
Wir haben unsere Arbeit im Hort bis zum Morgen des 29. September 1943 fortgesetzt, dem Tag vor Rosj Hasjana, dem jüdischen Neujahr. In den frühen Morgenstunden dieses Tages sind Harry und ich weggegangen. Zu Fuß. Gerade rechtzeitig, zeigte sich später. An diesem Tag haben die Nazis den Kinderhort endgültig geräumt. Der Judenrat wurde aufgehoben und alle Mitarbeiter nach Westerbork deportiert.
Wir waren kaum unterwegs, als jemand an uns vorbeiradelte. Wir sahen, dass er sich umschaute. Es war noch nicht mal acht Uhr und die Straße war menschenleer. Ich durfte vor acht Uhr morgens überhaupt nicht draußen sein. Harry wohl, wegen seiner Sperre . Wir gingen weiter, aber plötzlich stand der Mann wieder vor uns. Es war ein Niederländer im Dienst der deutschen Geheimpolizei, des Sicherheitsdienstes ( SD ). Er war in Zivil.
»Wohin geht ihr?«, schnauzte der Mann.
»Wir
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