Versteckt wie Anne Frank
untergetaucht waren.
»Wie heißt der ältere Mann?«, fragte Harry.
»Onkel Henk«, sagte der Junge.
Harrys Vater hieß Salli, aber weil in dieser Zeit alle einen anderen Namen hatten, zog Harry doch das Foto seines Vaters hervor, das er bei sich trug, und fragte: »Ist er das hier zufällig?«
»Ja«, lautete die Antwort, »das ist Onkel Henk.«
So erfuhren wir also, dass Harrys Vater auch in der Gegend untergetaucht war.
»Ich gehe nach Hause«, sagte der Junge, »und ich werde sehen, was ich tun kann.«
Zu Hause erzählte er seiner Mutter, Frau Breyer: »Du ahnst nicht, bei wem ich gewesen bin! Bei den Kindern von Onkel Henk. Es geht ihnen nicht gut, sie haben kein Wasser, keinen guten Platz zum Schlafen.« Als Harrys Vater das hörte, musste er weinen. »Nicht weinen«, sagte Frau Breyer, »morgen holen wir deine Kinder her.« Am nächsten Abend holte uns der Junge, Piet Breyer, zusammen mit seinem Bruder ab.
Es war, als kämen wir von der Hölle in den Himmel. Die Familie Breyer hatte ein kleines Haus am Deich, vier mal sechs Meter. Drinnen war es gemütlich, es wurde Tee getrunken. Sechzehn Menschen lebten dort: acht jüdische Untertaucher und acht Familienmitglieder, von denen ein Sohn im eigenen Haus untergetaucht war, weil er dem Arbeitseinsatz entgehen wollte. Auf dem Tisch lag eine weiße Tischdecke und darauf standen weiße Tassen. Harrys Vater, den wir sofort Onkel Henk nannten, weinte. Frau Breyer, Tante Ant, strahlte. Alle waren in Feststimmung: Onkel Henks Kinder waren gekommen!
Nicht lange nach unserer Ankunft entdeckte Herr Breyer, den wir Onkel Sam nannten, einen Riss in der Wand des Kriechraums unter dem Haus. »Der Riss ist ein Fingerzeig Gottes«, meinte er, »dort muss ein zweiter, geheimer Kriechkeller gegraben werden.« Der Keller war nur siebzig Zentimeter tief. Tiefer ging es nicht, denn dann kam das Grundwasser rein. Die Söhne arbeiteten wochenlang daran, tagsüber gruben sie, nachts verstreuten sie die Erde auf dem Land. Das Loch in der Wand, das Zutritt zum Versteck gab, wurde mit einer Holzluke abgedeckt, in die wir kleine Nägel schlugen. Dazwischen spannten wir Bindfäden, damit der Zement, den wir darauf schmierten, halten würde. An der Innenseite der Luke befand sich ein Knauf, damit der letzte Untertaucher sie hinter sich schließen konnte. Die Luke und die Wand sahen dann aus wie aus einem Stück. Licht und Luft kamen nur durch die Luftlöcher an der Rückseite des Häuschens hinein.
Zunächst schliefen wir nur nachts in diesem selbst gegrabenen Keller, dann aber fingen die Deutschen mit den Hausdurchsuchungen an. Da fand Tante Ant es vernünftig, wenn wir uns aufteilen würden, an einem Tag fünf oben und sechs unter der Erde, am nächsten umgekehrt. Zum Essen gingen wir nach oben, so auch dieses eine Mal, als eine Hausdurchsuchung stattfand, während wir alle zusammen am Tisch saßen.
Harrys Vater saß wie immer am Kopfende und hielt Ausschau. Wir waren mit dem Essen fertig, und genau in dem Moment, als der älteste Sohn nach der Bibel griff, rief Harrys Vater: »Sicherheitsdienst, versteckt euch, schnell!«
Alle rannten zum geheimen Keller. Die Teller, die Töpfe – Tante Ant warf alles ins Spülbecken. Danach setzte sie Gerrie, ihre behinderte Tochter, auf die Luke zum Kriechkeller. Darauf fielen die Deutschen nicht herein, sie schoben Gerrie weg und einer der Männer kroch in den Keller. Wir hörten jemanden kommen, immer näher kam er unserem selbst gegrabenen Keller. Jeden Moment erwartete ich den Strahl einer Taschenlampe in meinem Gesicht. Aber der Mann sah die Luke in der Wand nicht und ging wieder nach oben. Alle waren furchtbar erleichtert, aber ich musste ständig an den viel zu großen Tellerstapel im Spülbecken denken. Auch den entdeckten sie nicht.
»Wo sind die Juden?«, fragten sie den ältesten Sohn, der wie sein Vater Sam hieß. Er sagte: »Es gibt hier keine Juden.« Durch den Fußboden konnten wir alles hören. Vor Wut darüber, dass sie nichts gefunden hatten, schleppten sie Sam nach draußen. Wir hatten Angst, dass er deportiert oder sogar erschossen würde. »Wo sind die Juden?«, fragten sie noch einmal. »Juden?«, wiederholte er. »Wir kennen keine Juden, ich weiß nicht mal, wie Juden aussehen.«
»Hier sind Juden, da sind wir sicher, das erzählt man sich überall.«
»Und diese Gerüchte glaubt ihr?«
»Ja«, sagten sie, »da ist meist was dran.«
»Ihr müsst es selbst wissen, aber ich habe noch nie einen Juden gesehen.«
Sam
Weitere Kostenlose Bücher