Versteckt wie Anne Frank
Eingang der Schouwburg hatte der Judenrat eine Art Schalter eingerichtet, an dem die Leute bei ihrer Ankunft registriert wurden. Alle Namen und Adressen wurden in Listen eingetragen, damit die Deutschen genau wussten, wen sie festgenommen hatten. Einige Mitarbeiter des Rates versuchten, möglichst viele Kinder nicht auf diesen Listen zu registrieren, damit sie später wieder nach draußen geschmuggelt werden konnten. Das ging so: Wenn sich am Schalter zum Beispiel eine Familie mit drei Kindern meldete, schrieben sie auf: »Familie Cohen, zwei Kinder«. Eines der drei Kinder war jetzt »illegal« in der Hollandsche Schouwburg. Obwohl nur zwei Kinder angegeben worden waren, nahmen wir einen Tag später drei Kinder mit nach gegenüber. Jetzt war also ein Kind im Hort, das nicht auf den Listen stand. Und solange es nicht auf einer Liste stand, würden die Deutschen es auch nicht vermissen.
Ab und zu tauchten die Deutschen auch im Hort auf. Einmal stampften jede Menge Männer in Stiefeln die Treppe hinauf. Als sie in den Schlafsaal gehen wollten, versperrte ich ihnen den Weg. »Raus hier, untersteht euch schlafende kleine Kinder zu wecken.« Lammfromm zogen sie ab.
Häufig gab es mehrere Transporte wöchentlich ins Lager Westerbork . Die Deutschen wussten genau, wen sie deportierten, das war ja sorgfältig registriert worden. Aber dem Direktor der Schouwburg, dem deutschen Juden Walter Süskind, war es gelungen, das Vertrauen der Deutschen zu gewinnen, und er erzählte unserer Direktorin immer, wer abends abtransportiert würde. Ich ging dann oft nach gegenüber und nahm die Eltern zur Seite. »Ich möchte kurz mit euch sprechen«, sagte ich. »Was ich euch erzähle, ist streng geheim. Heute Abend um zehn Uhr werdet ihr auf Transport gestellt nach Westerbork. Aber eines eurer Kinder ist nicht registriert. Wollt ihr, dass wir es heute Abend mitbringen oder wollt ihr es bei uns zurücklassen?«
Die Eltern gerieten fast immer in Panik. »Was sollen wir tun?«
»Ihr habt bis heute Nachmittag um vier Uhr Zeit, euch zu entscheiden«, antwortete ich. »Dann komme ich wieder.«
Um vier Uhr fragte ich die Eltern. »Was habt ihr beschlossen?«
Die meisten taten es nicht, sie wollten ihre Kinder bei sich behalten. »Wir sind jung und stark«, sagten sie, »und wir können selbst für unsere Kinder sorgen.«
Wenn sie sich doch dazu entschlossen, ihr Kind zurückzulassen, sagten sie: »Sorgt dafür, dass es irgendwo hinkommt, wo es ihm gut geht, zu lieben Leuten.«
»Ja, das tun wir«, antwortete ich. »Wir werden für euer Kind sorgen, bis ihr wieder zurückkommt« – daran glaubte ich selbst auch.
Mit Babys, die registriert waren, gingen wir ähnlich vor, obwohl das schwieriger war. Wenn wir hörten, dass eine Familie am Abend deportiert würde, ging einer von uns zu den Eltern und stellte dieselbe Frage: »Wollt ihr euer Baby mitnehmen oder bei uns zurücklassen?« Auch dann kehrte ich um vier Uhr zu ihnen zurück. Wollten die Eltern das Baby mitnehmen, machten wir es um neun Uhr abends wach, gaben ihm ein Fläschchen und brachten es zu Papa und Mama. Entschieden sich die Eltern, ihr Baby zurückzulassen, sagte ich: »Ich komme um halb zehn, und statt eures Babys bringe ich euch eine Puppe, in einer Decke eingewickelt. Wenn jemand es sehen möchte, sagt ihr: ›Nein, es schläft.‹« Wie betäubt nickten die Eltern dann und stiegen am Abend mit einer Puppe in den Armen in den Überfallwagen.
Die Babys waren jetzt im Hort versteckt. Manchmal brachten wir sie in Taschen zu Widerstandsleuten, die sich um Untertauchadressen kümmerten. Wir gaben ihnen dann einen Löffel Wein, damit sie schliefen. Ältere Kinder ließen wir über das Lehrerseminar entwischen, dessen Garten an den des Kinderhortes grenzte.
Der Direktor des Seminars saß mit im Komplott. Er hatte ein Klassenzimmer leer geräumt und ein paar Betten dort aufgestellt, in denen die Kinder schlafen konnten. Leute aus dem Widerstand holten die Kinder dann bei ihm ab. Sie gingen ganz normal durch die Eingangstür hinein. Den ganzen Tag gingen Studenten ein und aus, das fiel nicht weiter auf. Sie mussten nur einen guten Moment abwarten, um mit dem Kind wieder rauszugehen. Seltsamerweise hat kein einziger Student je etwas davon gemerkt.
Andere »verschwanden« während eines Spaziergangs. Dann gingen wir zum Beispiel mit einer Gruppe von Kindern zur Plantage Parklaan, wo jemand bereitstand, um ein Kind mitzunehmen und zu einer Untertauchadresse zu bringen. Waren wir
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