Versteckt wie Anne Frank
Ich wurde wirklich gebraucht. Nirgendwo habe ich mich so zu Hause gefühlt wie dort.
In Sint-Jacobieparochie, wo ich ganz normal einkaufen ging, war ich als Loekie de Lange bekannt. Man erzählte sich dort, meine Schwester und ich hätten aus Amsterdam weggemusst, weil unsere Mutter zu krank war, um sich um uns zu kümmern. Eine seltsame Geschichte, die uns vom Pfarrer aufgedrängt worden war. Wenn unsere Mutter krank gewesen wäre, hätte man uns erst recht zu Hause behalten, denn in der Zeit war es die normalste Sache der Welt, dass Mädchen schon ab etwa zehn Jahren ihre Mutter bei Krankheit pflegten. Aber im Dorf hat man uns nicht verraten.
Etwa alle sechs Monate besuchte uns die Kollegin meines Vaters. Sie brachte Briefe meiner Eltern mit, die getrennt voneinander untergetaucht waren. Erst kam sie zu mir und danach zu meiner Schwester, die bei einer anderen Familie in Sint-Jacobieparochie lebte. Dann fuhr sie nach Limburg, wo meine Brüder untergetaucht waren. Weil sie nur eine Nacht blieb, saß ich nachts dort und beantwortete die Briefe wie wild. Ich schrieb meinen Eltern, dass ich im Haushalt arbeitete, später auch, dass ich zum ersten Mal auf einem Elektroherd gekocht hatte, auf dem die Milch überkochte, wenn man sich kurz ablenken ließ.
Gut möglich, dass die Kollegin auch die Finanzen regelte. Mein Vater hatte dafür vor dem Krieg schon allerlei Maßnahmen getroffen: Möbel, der Flügel, Silber – alles war verkauft worden. Er hat es kommen sehen, dass wir untertauchen müssten, und entsprechend gehandelt. Das hat mir immer sehr imponiert.
In Friesland organisierte ein Pfarrer Untertauchadressen. Eines Tages kam dieser Pfarrer zu uns in den Bahnhof. »Ich bin nach Bergum gerufen worden«, sagte er. »Das ist ein gutes Stück von hier entfernt, östlich von Leeuwarden. Deine Schwester und du, ihr dürft zu uns ins Haus kommen.« Mir wurde ziemlich bald klar, dass er eine Haushaltshilfe gut gebrauchen konnte. Er hatte vier Kinder, von denen das älteste vier Jahre alt war, und ein fünftes war unterwegs.
Meine Schwester war bei einer Krämerfamilie untergebracht. Sie wurde dort sehr streng behandelt. Für sie konnte der Umzug vielleicht eine Verbesserung bedeuten. Aber für mich? »Na ja«, antwortete ich dem Pfarrer, »ich habe es gut hier, und die Familie hat es gut mit mir. Vielleicht können Sie ein anderes Mädchen bekommen.«
»Aber bei uns in Bergum könnte deine Schwester zur Schule gehen.« Dieses Argument berührte mich. Meine Schwester war damals zwölf, und in diesem Alter war es wichtig, zur Schule zu gehen. Über meine eigene Schulausbildung dachte ich kaum nach, ich war nur froh, dass ich in der Familie ein mehr oder weniger entspanntes Leben führen konnte und nicht ständig Angst haben musste, geschnappt zu werden. Ich weigerte mich weiterhin, worauf er sagte: »Wenn du nicht mitkommst, bekommt die Familie kein Geld und keine Lebensmittelmarken mehr.« Es war nämlich so: Auf meinen falschen Personalausweis bekam ich Geld und Marken, der Bauer und die Bäuerin konnten Essen dafür kaufen. Ohne die Marken konnten sie nur noch für ihre eigene Familie Lebensmittel bekommen. Und das war nicht viel. Aber das war ihnen gar nicht so wichtig. »Ohne Lebensmittelmarken bist du uns auch willkommen. Wo fünf essen können, langt es auch für sechs.«
Schließlich stimmte ich dennoch zu fortzugehen. Das Pfarrhaus in Bergum war groß, und die Familie war groß. Ich konnte mich sofort an die Arbeit machen. Meine Schwester durfte zur Schule gehen, das war gut. Auch in Bergum wurde die unglaubwürdige Geschichte unserer kranken Mutter herumerzählt, aber wieder hat niemand uns verraten.
Der Pfarrer stieß seine Kinder oft wütend von einer Zimmerecke in die andere. Seine Frau hatte nichts zu melden. Sie bekam jedes Jahr ein Kind – das war alles. Wenn er samstags in seinem Arbeitszimmer eine Predigt vorbereitete, mussten wir mucksmäuschenstill sein, auch die kleinen Kinder. Ich kannte das aus meinem Elternhaus, aber das hier war wirklich lächerlich.
Ich führte den Haushalt. Und obwohl ich diese Familie schrecklich fand und ich nicht ich selbst sein konnte, habe ich es geschafft mich anzupassen. Nun gut, das hatte ich inzwischen wohl gelernt. Es war zu meiner zweiten Natur geworden.
Aus Nervosität machte meine Schwester oft ins Bett. Dann schüttelte der Pfarrer sie heftig und schlug sie. Und wenn er mich sah, schnauzte er mich an: »Ja, du bist die Königin.« Offensichtlich verriet
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