Versteckt wie Anne Frank
eine Kuh und ein Ferkel, wodurch sie nicht mehr so arm waren wie früher. Da jeden Moment Leute an die Tür klopfen konnten, hatten sie sehr große Angst, ich könnte entdeckt werden. »Weg mit dir, weg mit dir!«, riefen sie, wenn sie in der Ferne jemanden gehen sahen. Darum durfte ich tagsüber nur in der Scheune sitzen. In einer großen, hohen Scheune, in der keine Tiere waren, sondern nur Heu. Ich saß an einem Tisch nahe der Tür und las. Die Scheunentür ließ ich einen Spaltbreit offen stehen, für die frische Luft, aber auch, um ein wenig Licht zu haben. Nur abends durfte ich ein wenig raus, dann ging ich am Kanal von Jubbega entlang.
Nachts schlief ich mit der Tochter gemeinsam im Alkoven. Sie arbeitete in einer Bibliothek und brachte mir allerlei Bücher mit. In der Scheune habe ich Deutsch, Englisch und Französisch gelernt. Das schien mir ganz vernünftig zu sein, eines Tages würde ich doch wieder zur Schule gehen müssen.
Ich blieb bis zum Ende des Krieges in Jubbega und wurde sogar allmählich dick, weil ich immer nur still rumsaß. Nie überfielen uns Deutsche, und es gelang mir dort, meine Angst zu überwinden.
Nach dem Krieg kostete mich das Überleben so viel Mühe, dass ich nicht auf die Idee kam, mich bei der Familie zu bedanken, das finde ich noch immer sehr schlimm. Sie sind jetzt natürlich längst verstorben und auch ihre Tochter wird nicht mehr am Leben sein.
In dem friesischen Städtchen IJlst habe ich mit Bram und seinen Eltern die Befreiung gefeiert. Die Deutschen waren weg, das war schön, aber für mich gab’s wenig Grund zu feiern – ganz bestimmt nicht mit Bram. Dennoch bin ich später auch mit ihm in unsere alte, leer stehende Amsterdamer Wohnung in der Grevelingenstraat gezogen. Ich war sogar eine Weile mit Bram verlobt, das wollten unsere Eltern.
An das Wiedersehen mit meinen Eltern und Brüdern habe ich keine Erinnerungen. Mein Vater wollte sich nach dem Krieg sofort scheiden lassen. Als ich das hörte, war es, als würde sich der Boden unter mir auftun wie bei einem Erdbeben. Während des Krieges wärmte ich mich an dem Gedanken, dass danach alles besser werden würde, sowohl bei uns zu Hause als auch in der Welt, dass wir alle zusammen eine neue Gesellschaft aufbauen würden. Durch die Scheidung verflog jegliche Hoffnung, ich fühlte mich völlig verlassen. Jahrelang.
In den Jahren nach dem Krieg wollte ich herausfinden, was mit meinen Klassenkameraden geschehen war, vor allem mit Jacques. Ich habe mich aber nie getraut, mich nach ihm zu erkundigen. Erst dreißig Jahre später bin ich zur Hollandsche Schouwburg in Amsterdam gegangen. Dort sind die Namen der Juden, die im Krieg umgekommen sind, in eine Wand eingraviert. Da entdeckte ich, dass er fast sofort nach seiner Ankunft in Sobibor vergast worden war.
Johan van de Berg knutscht mit Lenie Visserman!
Johan Sanders,
geboren in Enschede am 6. August 1931
Als der Krieg ausbrach, war mein Vater beruflich in Paris unterwegs. Es war wunderbares Wetter, ein herrlicher Sommertag. Unvorstellbar, dass ein Krieg im Gange war. Da es noch kein Telefon gab und keiner genau wusste, was mit meinem Vater war, kursierten die seltsamsten Gerüchte. »Oh, Gerard Sanders, der ist nach Spanien geflohen.« Aber am 14. Mai war er schon wieder in Den Haag, zu Fuß und per Anhalter war er aus Paris zurückgekehrt. Er war nie auf den Gedanken gekommen, nach Spanien zu fliehen, dafür hing er viel zu sehr an seiner Familie.
Wir waren eine orthodoxe Familie, bei uns wurde nach den jüdischen Glaubensprinzipien gelebt. Mein Vater war nicht nur wichtig für unsere Familie, auch für seine Geschwister, Tanten und Onkel war er jemand, den man um Hilfe oder Rat bat. Am Sabbat gingen wir in die Synagoge, es kamen Verwandte zu Besuch oder wir besuchten sie. Wir gingen zu Fuß, denn Rad- oder Autofahren war am Sabbat verboten. Damals hatte ich nie Lust dazu: morgens in die Synagoge, danach Mittagessen bei Verwandten. »Mach einfach mit«, sagte meine Mutter, »später wirst du gerne daran zurückdenken.« Sie hat Recht behalten, denn ich vermisse es noch immer.
Die erste große Razzia in Enschede fand am Sonntag, den 14. September 1941, statt. Wir wurden früh gewarnt, wodurch mein Vater fliehen konnte. Hundertfünf junge Männer aus Enschede und Umgebung wurden damals aus ihren Wohnungen geholt und in der Turnhalle der Schule gefangen gehalten. Ich habe die Männer dort sitzen sehen. Da ich ein paar von ihnen kannte, habe ich bei einigen
Weitere Kostenlose Bücher