Versteckt wie Anne Frank
einmal, als wir 1943 untertauchten.
Eines Tages wurde mein ältester Bruder mitgenommen. Zum Glück kam er nach einer Weile wieder nach Hause, aber meine Eltern hatten furchtbare Angst. Diese Angst übertrug sich auf mich und nahm im Laufe des Krieges stetig zu. Besonders als wir gezwungen wurden, in eine kleine Wohnung im Amsterdamer Viertel »Rivierenbuurt« zu ziehen. Die Deutschen brachten die Juden in sogenannten Judenvierteln in der Stadt unter, damit sie bequem Razzien abhalten konnten. In derselben Zeit mussten wir die Schule verlassen. Das fand ich eigentlich nicht so schlimm, ich war nämlich gerade in der siebten Klasse sitzen geblieben, weil ich nichts tat. Doch – zeichnen. Ich zeichnete glückliche Familien.
Seitdem ging ich mit meinem Bruder zum jüdischen Lyzeum. Wir liefen täglich eine halbe Stunde zu Fuß dorthin. Auf dieser Schule hatte ich einen Freund, Jacques. Wir trafen uns einmal zum Schlittschuh laufen. Danach brachte er mich mit dem Rad nach Hause. Es wehte ein starker Wind und deshalb tränten mir die Augen. Oh Gott, dachte ich, warum muss ich jetzt weinen, während ich so froh bin, dass er hier mit mir radelt.
Dass wir eines Tages nicht mehr Radfahren durften, dass Geschäfte für uns verboten waren, dass wir einen Judenstern tragen mussten – nein, das alles machte nicht so viel Eindruck auf mich. Was mich am meisten beeinflusste, war die Angst. Vor allem nachts im Bett hatte ich Angst. Beim kleinsten Geräusch dachte ich, Jacques würde bei einer Razzia mitgenommen.
Und eines Tages stand die Gestapo wirklich in unserer Schulklasse. Sie lasen seinen Namen vor: Jacques B. Er stand auf und sagte: »Ich bin jung und stark, ich überlebe es schon.« Er trug gute Wanderschuhe und hatte einen Rucksack dabei.
Mir war bereits zu Kriegsbeginn klar, dass ich Jüdin war und dass vor allem Juden verhaftet wurden. Dennoch fühlte ich mich noch sicher. Ich hatte viel mehr Angst, andere würden verhaftet werden. Das war nicht überraschend, da ich über meinen Vater vorübergehend eine Stelle beim Judenrat bekommen hatte, der auch meinen Vater wegen seines Berufes schützte. Anders gesagt: Wer es schaffte, eine Stelle beim Judenrat zu ergattern, bekam eine Sperre .
Der Job in der Altenpflege, den mein Vater mir besorgt hatte, rettete mich. Eines Tages war ich bei einer alten Dame in der Rivierenbuurt bei der Arbeit. Kurze Zeit später stürmten Gestapomänner in ihren grüngrauen Uniformen die Treppe hinauf. Meine Papiere waren in Ordnung, ich musste nicht mit. Die alte Dame wohl. Sie zerrten sie aus dem Bett und warfen sie ohne Umstände in einen offenen Überfallwagen. Ich weiß nicht, ob ich ihr noch etwas zugesteckt habe. Kleidung oder Essen. Ich weiß nicht mal, ob ich noch etwas zu ihr gesagt habe.
Bei uns zu Hause stand ein Koffer mit ein paar Kleidungsstücken bereit. Für den Fall, dass wir plötzlich untertauchen müssten. Nicht für den Fall, dass wir nach Polen abtransportiert würden, das wollten wir unbedingt verhindern.
Als ich sechzehn wurde, fiel ich nicht mehr unter den Schutz meines Vaters und galt für die Deutschen als erwachsen. Daher konnte ich jeden Moment auch ohne meine Eltern zur Deportation aufgerufen werden. Deshalb tauchten wir alle unter. Nichtjüdische Kollegen meines Vaters haben sich um die Verstecke gekümmert. Wie sie die gefunden haben und was das Untertauchen kostete, darüber wurde nicht gesprochen, auch nach dem Krieg nicht. Es war aber klar, dass man Geld brauchte und Leute ohne Geld unmöglich untertauchen konnten.
Eine Kollegin meines Vaters brachte mich zu einem Bauern ein wenig außerhalb des friesischen Dorfes Sint-Jacobiparochie. Der Bauer und seine Familie wohnten schon seit Jahren in einem verlassenen Bahnhof an einer stillgelegten Bahnlinie. In einem großen Raum, der früher vermutlich der Warteraum gewesen war, hielten sie ein paar Ferkel und eine Kuh. Auf dem Dachboden hatte ich ein kleines eigenes Zimmer.
Ich hatte mir zuvor gar nicht vorgestellt, wie es als Untertaucher sein würde. Was mich am meisten erstaunte, war die Tatsache, dass es außerhalb von Amsterdam Orte gab, an denen man angenehm leben konnte und wo Leute sich gut um einen einzigen Untertaucher kümmerten.
Sie hatten drei Kinder, einen Sohn, der ein Jahr jünger war als ich, ein Mädchen, das zehn Jahre jünger war, und noch ein Baby. Wie unbedarft ich auch gewesen sein mag – als die Bäuerin krank wurde, versorgte ich das Baby, kochte Essen, führte den Haushalt.
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