Versteckt wie Anne Frank
meine Haltung oder mein Blick, dass ich ihn verabscheute.
Als sie über fünfzig war, hat meine Schwester sich umgebracht. Das muss mit den vielen Spannungen unserer Kindheit zu tun gehabt haben.
Irgendwann wurden im Haus des Pfarrers Deutsche einquartiert. Sie waren dort, um Bunker zu bauen, und nicht, um Juden aufzuspüren. Dennoch hatte ich furchtbare Angst vor ihnen. Regelmäßig kamen sie mit Hühnern oder einem Kaninchen in die Küche. Das Dienstmädchen und ich bereiteten sie dann zu. Aber ich weigerte mich, davon zu essen: Ich wollte nichts essen, was Deutsche gefangen oder geschossen hatten. Das hielt der Pfarrer für Unfug. Er hasste meine Haltung. Er behauptete, meine Ablehnung sei für alle gefährlich. Das war Unsinn, da die Deutschen nicht bei uns im Wohnzimmer aßen und sie meine Verweigerung unmöglich sehen konnten.
Ich ängstigte mich im Pfarrhaus so sehr, dass ich zum Hausarzt im Dorf ging – ich nahm an, dass der Mann uns wohlgesonnen war wie alle in Bergum. Ich erklärte, dass meine Schwester und ich im Gartenzimmer des Pfarrhauses schliefen, und fragte ihn: »Wenn die Deutschen in unser Zimmer stürmen, dürfen wir dann versuchen, über den Garten zu Ihnen zu gelangen?« Damit war er einverstanden.
Ich suchte einen Zufluchtsort, ohne eine Ahnung zu haben, was mit den Juden in Deutschland und Polen geschah. Wir dachten, dass man dort so hart arbeiten müsse und so wenig zu essen bekäme, dass man von allein sterben würde.
Eines Tages schrieb ich meinem Vater, dass ich im Haus solche Angst hatte. Ein halbes Jahr später antwortete er, ich brauchte keine Angst zu haben, und es sei auch unsinnig, die Hühner nicht zu essen. Ich solle mich nicht so anstellen. Das war eine große Enttäuschung für mich.
Über den Besuch beim Hausarzt und meine Angst habe ich mit meiner Schwester nicht sprechen können, sie war ja vier Jahre jünger als ich. Ich fühlte mich damals sehr allein.
Meine Angst ist im Nachhinein verständlich: Nicht meine Weigerung »deutsches« Essen zu mir zu nehmen brachte uns in Gefahr, sondern der Pfarrer selbst. Jeden Sonntag verkündete er auf der Kanzel, was die Woche über bei Radio Oranje gesagt worden war. Dabei wussten alle, dass man sofort verhaftet wurde, wenn die Deutschen auch nur vermuteten, dass man Radio Oranje hörte. Und er erzählte auch von uns, den Mädchen, die wegen ihrer kranken Mutter bei ihm im Haus wohnten.
Es ist somit nicht verwunderlich, dass der Pfarrer eines Tages selbst mit seiner Familie untertauchen musste. Also mussten wir weg. Meine Schwester ging mit einer Lehrerin aus Bergum zur Watteninsel Schiermonnikoog, wo die Frau geboren worden war und unterrichten würde. Meine Schwester hatte dort eine gute Zeit. Die Lehrerin, Tante Martha, war für sie wirklich wie eine Mutter.
Eine Frau aus dem Widerstand brachte mich mit dem Rad zu einem Pfarrer in Drachten. Nach einem Monat brachte dieselbe Frau mich zu einem jungen Bauernehepaar, bei denen auch ein jüdischer Junge untergetaucht war, der zwei oder drei Jahre älter war als ich. Bram hieß er. Wenn der Bauer schlafen ging, sagte er: »Bleibt ihr ruhig noch eine Weile hier sitzen.«
An einem solchen Abend machte ich meine ersten sexuellen Erfahrungen. Abscheulich. Ich fand den Jungen überhaupt nicht nett, aber ich habe es trotzdem getan. Ich schämte mich ganz schrecklich dafür, vor allem weil ich noch immer an Jacques dachte, den Jungen vom jüdischen Lyzeum. Ich wusste, dass er deportiert worden war und es fraglich war, ob er überhaupt noch lebte, aber ich schämte mich, weil ich meine Gefühle verleugnete.
Als es bei dem jungen Ehepaar offensichtlich auch nicht mehr sicher war, kam ich zu einem älteren Bauernehepaar in Jubbega. Sie hatten fünf Kinder, von denen das jüngste, eine unverheiratete Tochter, noch zu Hause lebte. Sie waren vor dem Krieg so arm gewesen, dass der Bauer unter der Woche in Deutschland gearbeitet hatte. Die Bäuerin war eine liebe, krumme, alte Frau. Im Sommer und auch im Winter wusch sie am Montagmorgen um vier Uhr in der Früh draußen die Wäsche auf einem altmodischen Waschbrett. Sie hatten immer wenig zu essen, kannten keinen Komfort und mussten furchtbar hart arbeiten. Aber als im letzten Kriegswinter Leute aus dem Westen des Landes an die Tür klopften und um Essen baten, gaben sie ihnen immer etwas. Kopfschüttelnd fragten sie sich dann: »Wie ist das nur möglich, dass diese Menschen nichts zu essen haben, die Leute aus der Stadt?«
Sie hatten jetzt
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