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Versteckt wie Anne Frank

Versteckt wie Anne Frank

Titel: Versteckt wie Anne Frank Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Prins , Peter Henk Steenhuis
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sahen – es wird etwa vier Uhr morgens gewesen sein – , waren englische Geschütze, die unter großen Tarnnetzen aufgestellt waren. Unsere Befreier begrüßten uns herzlich. Ich weiß noch, dass ich dachte: Ich brauche mich nicht mehr zu verstecken, ich brauche nicht mehr so zu tun, als wäre ich jemand anderes. Ich bin in Sicherheit, für mich ist der Krieg vorbei.
    So war es auch. In Sevenum wurden wir bei einer Familie auf einem Bauernhof untergebracht, er lag auf der Heide gleich neben einer Bahnlinie. Tagsüber streiften wir umher und suchten in der Nähe der Bahngleise nach Sprengstoffen, die dort überall herumlagen. Kugeln, Schießpulver, Granaten, wir fanden alles Mögliche. Wir machten aus dem Krieg ein Spiel. Die englischen Soldaten gaben uns Schokolade oder andere Leckereien.
    Eines Tages, als wir unten an der Bahnlinie spielten, fuhren englische Jeeps über die Gleise und wurden bombardiert. Nach dem Bombardement gingen wir zu der Stelle. Die verletzten und toten englischen Soldaten schockierten uns gewaltig.
    Rund um Sevenum wurde monatelang heftig gekämpft. Es war dort eigentlich viel zu gefährlich zum Spielen. Erst im Frühjahr 1945 konnten wir zurück nach Grubbenvorst.
    Nach dem Krieg blieb ich noch eine Weile auf dem Bauernhof der Familie Theelen. Zum ersten Mal ging ich auf eine normale Schule. Ich kam in die sechste Klasse. Endlich kam ich zu Freunden in die Klasse, mit denen ich schon seit Jahren auf der Straße gespielt hatte. Zusammen bereiteten wir uns auf die weiterführende Schule vor 3 .
    In den Zeitungen erschienen nun Listen mit Namen von Überlebenden. Meine Eltern, mein Großvater und noch viele andere Familienmitglieder standen nicht auf den Listen, meine Schwester und ich wohl. Anfangs gingen wir sicherlich nicht davon aus, dass unsere Eltern beide ermordet worden waren. Wir hatten immer noch Hoffnung. Aber langsam gewöhnten wir uns an die Vorstellung, dass sie nicht mehr zurückkommen würden.
    Ich bin viel älter geworden als mein Vater. Er war dreiundvierzig, als er abtransportiert wurde, ich bin inzwischen siebenundsiebzig. Meine ältesten Söhne sind schon älter, als er jemals geworden ist. Wenn ich mir das überlege, überkommt mich ein seltsames Gefühl. Ganz ab und zu versuche ich dann auch, mir vorzustellen, was meine Eltern durchgemacht haben, im Zug nach Auschwitz, bei der Ankunft im Lager. Danach. Aber dann werde ich so wütend, dass ich denke: Das ist nicht gut, ich sollte das nicht machen. Darum habe ich Auschwitz nie besucht, auch kein anderes Konzentrationslager , ich fürchte, die Emotionen wären zu groß.
    Meine Gefühle von früher bleiben wie von selbst auf Abstand. Ich kann mich als sechs- oder siebenjährigen Jungen sehen, der durch Amsterdam streunt, Klingelmännchen oder andere Streiche macht. Ich kann auch über diesen Jungen nachdenken, über die Beziehung zu seinem Vater, seiner Mutter, seinem Großvater. Aber die Gefühle wiedererleben, die ich damals hatte, das geht nicht, ich habe keinen Zugang zu ihnen. Vielleicht habe ich mich während der Jahre als Untertaucher zu lange verbergen und meine Herkunft dermaßen leugnen müssen, dass ich die Vergangenheit ganz automatisch fernhalte. Womöglich kann ich meine Gefühle aus dieser Zeit einfach nicht wiederbeleben und muss mich mit meinen Erinnerungen begnügen.
    3 Auf die weiterführende Schule wechselt man in den Niederlanden mit etwa zwölf Jahren.

Jacques

    Lowina de Levie,
geboren in Amsterdam am 10. April 1926
    Ich habe mich nie getraut Kind zu sein. Nicht, dass man mich gehänselt hätte, aber auf dem Schulhof spielte ich einfach nicht mit. Ich beobachtete die anderen Kinder. Weil meine Eltern ständig Streit hatten, traute ich mich auch nicht Freunde und Freundinnen mit nach Hause zu bringen.
    Wir waren weder arm noch reich. Von unseren Schulbroten war immer eines belegt, die restlichen waren nur dünn mit Margarine bestrichen. Meine Schwester und ich bekamen zweimal pro Jahr ein neues Kleid. Damit waren wir sehr zufrieden. Dass andere Kinder in meiner Klasse es besser hatten, fand ich nicht schlimm. Die angespannte Atmosphäre zu Hause aber schon.
    Bei Kriegsausbruch war ich vierzehn Jahre alt. Um etwa vier, fünf Uhr stand ich mit meinem Vater und meinem ältesten Bruder auf der Veranda. Es war eine wunderbare Nacht, ein wunderbarer Morgen. In der Ferne hörten wir das Dröhnen von Flugzeugen. Was wirklich los war, begriff ich lange Zeit nicht. Bei Ausbruch des Krieges nicht, und nicht

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