Versteckt wie Anne Frank
Untertaucher.
Ich schlief in einem Dachzimmer mit einem kleinen Fenster. Wenn es Gewitter gab und ich Angst vor den Blitzen hatte, durfte ich zwischen Tante Net und Onkel Toon schlafen. Ich hatte es gut dort. Bloß meine Mutter und mein Vater waren so weit weg. Wir schrieben uns Briefe, lange Briefe, die ich nicht aufbewahren konnte, sie wurden nach dem Lesen verbrannt oder zerrissen.
Leider musste ich weg von Tante Net und Onkel Toon. Im Dorf wohnte ein geschwätziger Pfarrer, der allzu gern mit mir plauderte. Nach zehn Monaten schien es meinen Untertaucheltern, die selbst im Widerstand tätig waren, besser, mich woanders unterzubringen.
Onkel Slothouwer holte mich ab und brachte mich wieder zu Pfarrer Dijk in Leiderdorp. Vor dem Essen bekreuzigte ich mich. Diese katholische Sitte hatte ich von Onkel Toon und Tante Net übernommen. Darüber mussten sie lachen. Ein jüdischer Junge, der am Tisch bei einem evangelischen Pfarrer vor dem Essen das Kreuzzeichen machte …
Normalerweise schlief ich mit dem ältesten Sohn in einem Zimmer, aber eines Abends durfte ich dort allein schlafen. Später an diesem Abend tauchten in dem verdunkelten Zimmer plötzlich zwei schemenhafte Gestalten auf: meine Eltern. Sie besuchten mich, und der Pfarrer hatte dafür gesorgt, dass wir allein waren.
»Hallo, Tante«, so begrüßte ich meine Mutter. Das hatte ich so gelernt. Zu Frauen, die zu Besuch kamen, sagte ich im Brabanter Dialekt »Tante«. Meiner Mutter tat es sehr weh, dass ich sie nicht gleich erkannte, aber das hat sie sich damals nicht anmerken lassen.
Wir redeten in dem schwach beleuchteten Zimmer miteinander. Ob wir uns auch in den Arm nahmen, das weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich wohl noch an den Abschied. Danach gingen sie zurück zu ihrer eigenen Untertauchadresse.
Ein paar Wochen später kam ich ins Jungenwaisenhaus der Ordensbrüder in Tilburg. Ich ging nun als Jan van den Heuvel durchs Leben, ich war nach dem Platz im Stadtzentrum Tilburgs benannt worden: »de Heuvel«. Unter den vierzig Waisenkindern befanden sich drei andere Untertauchkinder: ein jüdischer Junge und zwei katholische Brüder, deren Vater im Widerstand war.
Neben dem Jungenwaisenhaus stand das Haus, in dem die Klosterbrüder wohnten. Die meisten der vierzig Brüder arbeiteten als Lehrer, drei waren nur für das Jungenwaisenhaus zuständig. Obwohl auch wir für Waisen durchgingen, wussten die Brüder, dass wir Untertaucher waren.
Ab und zu fiel einem der Waisenkinder auf, dass ich anders war. »Warum geht Jan denn nie zur Kommunion?«, fragte mal einer. Und ein anderer: »Weshalb braucht Jan nie zu beichten?« Um zur Kommunion zu gehen und zu beichten, musste man katholisch sein.
Weil ich so oft zur Kirche ging, wusste ich genau, wie die Gottesdienste verliefen. Und vor allem merkte ich auch, wenn ein Messdiener einen Fehler machte. Ich bettelte und flehte, selbst Messdiener werden zu dürfen, dieses Theater fand ich ganz wunderbar. Aber auch als Messdiener musste man getauft sein.
In den Alltag dort lebte ich mich gut ein. Ich half beim Decken der langen Tische, aß mit den anderen Jungen, spielte mit ihnen und fuhr auch mit ihnen in die Ferien nach Veghel. Weil ich nicht auffallen wollte, passte ich mich an.
Im Jungenwaisenhaus gab es ein einziges Radio, das im Zimmer von Bruder Gaudentius stand, dem Leiter des Waisenhauses. Vor allem nach unserer Befreiung, im Oktober 1944, saß ich oft mit Bruder Gaudentius davor. Der Bruder war ein dicklicher, etwas unappetitlicher Mann. Er rauchte immer schwere Zigarren, deren Asche dann auf seine Kutte fiel, die sowieso schon mit Flecken übersät war.
Gespannt saß ich neben dem Radio und hörte zu. Wir waren zwar befreit, aber der Rest des Landes noch nicht. Wir hörten von einer Hungersnot, von einem Hungerwinter . Was bedeutete das für meine Eltern? Dort in dem Zimmer von Bruder Gaudentius war ich mir des Krieges sehr bewusst. Aber mit meinen Freunden im Waisenhaus sprach ich nicht darüber. Niemals. Diese Monate fand ich schrecklich. Die Unsicherheit und dass es unmöglich war, zu meinen Eltern zu gelangen, obwohl wir doch befreit waren.
Nach unserer Befreiung veränderte sich das Leben im Jungenwaisenhaus vollkommen. Im Kloster wurden englische Soldaten untergebracht. Mit ihnen feierten wir Weihnachten, und zum ersten Mal in meinem Leben aß ich Plumpudding. Und wir lernten englische Lieder, die ich wunderschön fand.
Meine Zeit als Untertaucher endete erst, als auch der Rest der
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