Versteckt
Frauenfinger in einem Gummihandschuh gefunden hatte.
Am nächsten Tag folgte auch schon die nächste Geschichte.
Die hatte er in der Zeitung gelesen.
In Chicago war die Leiche eines Nachtwächters in einem Schweinepferch mit Hunderten von Schweinen gefunden worden. Sie hatten den Mann schon halb aufgefressen, vor allem das Gesicht und die Genitalien. Und das Beste war: Seine Kleider hingen ganz ordentlich neben dem Pferch an einem Zaun.
Rafferty machte einige ebenso naheliegende wie schmutzige Bemerkungen darüber, was jemand nackt im Dunkeln bei den Schweinen wollen könnte.
Meiner Meinung nach wurde er immer seltsamer.
Und nicht nur er.
Von Zeit zu Zeit liegt eben etwas in der Luft, das alle irgendwie verrückt macht. Keine Ahnung, wieso. Manchmal hat es tatsächlich einen Grund, wie damals, als JFK erschossen wurde. Und manchmal ist der Anlass völlig unwichtig, wie ein verlorenes Baseballspiel, oder hört einfach nicht mehr auf, wie die Rezession, sodass man ihn irgendwie gar nicht mehr wahrnimmt. Ja, so könnte es auch in Dead River gewesen sein.
Wieso es nicht nur an Rafferty lag?
Weil wir genauso waren.
Wir klauten. Wir taten dumme, unbesonnene Dinge. Steven war von einem Felsen gefallen. Wir hatten ein Auto gestohlen. Ich war ihnen auf blinde, selbstzerstörerische Weise hörig, ganz egal, was für einen Schwachsinn sie als Nächstes ausbrüteten.
Auf dem Marktplatz stand die Statue eines berittenen Bürgerkriegshelden. Eines Nachts malten wir die Pferdehoden rot an. Und zwei Nächte darauf blau.
Dann saßen wir eines Nachmittags am Strand. Casey war schwimmen gegangen – obwohl es inzwischen wärmer war, war mir das Wasser immer noch zu kalt. Steven war wegen seiner Hand zu Hause geblieben, und so saßen Kim und ich alleine da, beobachteten Casey und unterhielten uns über Stevens Unfall – wir nannten es jetzt einen Unfall. Wir redeten nur langweiliges Zeug: wie viele Stiche es waren, wann die Fäden gezogen würden, ob er die Hand wieder normal bewegen könnte. Wir ließen den fraglichen Tag Revue passieren, ohne auf das Eigentliche zu sprechen zu kommen: Warum sie es getan hatte. Dieses Thema vermieden wir.
Kim erinnerte sich an eine andere Geschichte, die ich hier nur erzähle, weil ich vorhin erwähnt habe, dass etwas in der Luft lag – wie eine riesige Gewitterwolke, die sich früher oder später über Dead River entladen würde.
Damals sei sie noch ein kleines Mädchen gewesen, erzählte Kim.
Nebenan lebte eine Familie mit einer Tochter. Sie war ein Einzelkind und schon im Teenageralter. Nicht besonders hübsch oder klug, irgendwie komisch. Unfreundlich und mürrisch.
Jedenfalls bekam sie zum Geburtstag – ihrem siebzehnten Geburtstag – gleich zwei Geschenke: ein Auto und einen Dobermannwelpen. In der Schule war sie nicht gerade beliebt, und Kim vermutete, dass das Auto sie beliebter machen und der Hund sie trösten sollte, wenn Ersteres nicht funktionierte.
Das Mädchen liebte den Welpen.
Weil beide Elternteile zur Arbeit gingen, war der Hund tagsüber ganz allein zu Hause. Jeden Nachmittag um halb vier preschte das Auto in die Einfahrt, und das Mädchen stieg aus und lief die Stufen zum Eingang hinauf, wo der Hund schon wartete, laut bellte und an der Tür kratzte. Dann sprangen sie um die Wette, quietschten und kuschelten miteinander, was Kim selbst als Kind schon recht ekelhaft fand. Und irgendwann war es ein ziemlich großer Welpe, der wie verrückt durch den Garten des Mädchens hetzte. Und auch durch Kims Garten.
Jeden Tag.
Bis das Mädchen irgendwann nach Hause kam und weder ein Bellen noch ein Kratzen an der Tür zu hören war. Nur Stille. Kim spielte wie immer im Garten und merkte sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Inzwischen hatte sie sich an den Hund gewöhnt. Das Mädchen ging ins Haus, und Kim wartete ab.
Ein paar Minuten später kam das Mädchen mit dem Hund auf den Armen aus dem Haus und lief zum Auto. Sie legte den Hund in den Wagen und fuhr schnell wieder los. Kim erfuhr erst später, was geschehen war:
Als das Mädchen nach Hause kam, lag der Hund in der Küche und war kurz vor dem Ersticken. Irgendetwas steckte in seiner Kehle fest. Sie hob ihn auf und fuhr ihn zum Tierarzt. Der Tierarzt sah sich den Hund an und ließ das Mädchen draußen warten. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus, fuhr nach Hause und wartete dort, bis der Arzt mit der Behandlung fertig war.
Sie war gerade wieder daheim angekommen, als auch schon das Telefon klingelte. Es war
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