Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)
islamistischen Terrorismus erlebt.
Haben Sie sich selbst auch als politisch verführbar erlebt?
Nein, nicht als erwachsener Mann.
Und warum sollten die Deutschen heute verführbarer und ängstlicher sein als andere Nationen?
Das hat mit der Belastung durch das Wissen um die schlimmen Verbrechen während der Nazizeit zu tun. Diese Belastung bleibt. Die babylonische Gefangenschaft der Juden ist nach zweieinhalbtausend Jahren immer noch im Bewusstsein der gebildeten Menschen. Auschwitz und der Genozid an den Juden werden ähnlich lange im Bewusstsein bleiben. Diese Tatsache belastet die Psyche der Deutschen und wird das weiterhin tun. Es ist eine Last, die andere Völker nicht tragen müssen.
Das klingt mir ein wenig zu selbstmitleidig: Die Opfer der Deutschen haben die Hauptlast zu tragen!
Nein. Die Last, welche die Opfer zu tragen haben, liegt auf einer ganz anderen Ebene. Die Last der Deutschen – auch der folgenden Generationen! – liegt in der Verantwortung dafür, dass sich dergleichen niemals wiederholen darf.
Und diese Last wirkt sich bis heute auf die deutsche Politik aus?
Diese Last der Verantwortung wird das 21. Jahrhundert überdauern. Aber man darf sie nicht auf Israel einschränken. Ich erlebe zum Beispiel, wie eine deutsche Bundeskanzlerin aus dem Bewusstsein heraus, belastet zu sein mit der Verantwortung, dass sich so etwas wie der Genozid an den Juden niemals wiederholen darf, zu Übertreibungen neigt. Zum Beispiel dazu, die Sicherheit Israels als einen Teil der deutschen Staatsräson anzusehen.
Wir als Volk der einstigen Täter übernehmen ein Stück Verantwortung für das Existenzrecht Israels. Was ist daran schlecht?
Mitverantwortlich zu sein für Israels Sicherheit ist eine gefühlsmäßig verständliche, aber törichte Auffassung, die sehr ernsthafte Konsequenzen haben könnte. Denn wenn es zum Beispiel zwischen Israel und Iran zum Krieg käme, dann hätten nach dieser Auffassung die deutschen Soldaten mitzukämpfen – aus Verantwortung gegenüber einem Volk, dessen Verwandten von Vorfahren der heutigen Deutschen so viel Unrecht angetan worden ist.
Ich bleibe dabei: Die große Mehrheit der Deutschen hat aus der Geschichte gelernt und ist heute weitgehend immun gegen totalitäre Versuchungen.
Ich glaube, Immunität sollte man keinem Volk bescheinigen. Das ginge zu weit. Aber richtig ist wahrscheinlich, dass wir Deutschen noch über lange Zeit totalitären Vorstellungen ziemlich ablehnend gegenüberstehen werden. Das ändert aber nichts daran, dass ich uns für emotional verführbar halte.
In Ihrem Gespräch mit Fritz Stern gehen Sie noch weiter, wenn Sie sagen: »Ich habe das dumpfe Gefühl im Bauch, dass es irgendwelche Gene gibt, die eine Rolle spielen.«
Das Wort »Gen« ist da sehr missverständlich, es klingt biologistisch. Ich habe das Gespräch nicht nachträglich korrigieren wollen. Aber ich glaube sehr wohl, dass es in der politischen Kultur ein Erbe gibt.
Deutschland ist im Vergleich zum Kaiserreich und zum Naziregime eine so sanfte Macht geworden. Wenn überhaupt, dann lässt sich heute eine ganz andere Kontinuität feststellen …
Richtig, die Politik der Bundesrepublik ist ein Musterbeispiel für Kontinuität. Sie fängt damit an, dass seit dem Ende der fünfziger Jahre alle großen deutschen Parteien und die Parteiführer die europäische Integration und das nordatlantische Bündnis wollten. Ende der sechziger Jahre kamen die Sozialdemokraten an die Macht, und die Regierung unterschrieb gegen den Willen der Christdemokraten den Vertrag zur Nichtverbreitung von Atomwaffen. Nachdem der Christdemokrat Helmut Kohl Kanzler geworden war, hielt er jedoch an dieser Entscheidung fest. Ähnlich war es mit der neuen Ostpolitik oder mit dem Nato-Doppelbeschluss. Einer setzt die Politik des anderen fort – es gibt eine große, beruhigende Kontinuität.
Eben: Nationalismus oder Militarismus gibt es doch in der Bundesrepublik gar nicht mehr!
So etwas ist zurzeit nicht vorhanden. Im Gegenteil. Die Deutschen werden gleichwohl darüber nachdenken müssen, dass die Bundeswehr laut Grundgesetz nur die Aufgabe hat, Deutschland gegen einen Angriff zu verteidigen. Gemeint war damals die Sowjetunion, von der heute keine Angriffsgefahr mehr droht. Wozu brauchen wir also heute eine große Armee? Wozu eine Luftwaffe und eine Marine? Eine Diskussion dieser Fragen ist notwendig. Sie wird vermutlich ausgelöst werden durch Meinungsverschiedenheiten über die Beteiligung deutscher Soldaten an
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