Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)
davon versteht. Einige Kanzler hatten aber das Glück, Personen in ihrer unmittelbaren Nähe zu haben, die über ökonomische Urteilskraft verfügten und auf die sie sich verlassen konnten. Das galt für Kiesinger, der hatte mit Strauß und Schiller gleich zwei erstklassige Leute. Das galt auch für Brandt, der hatte erst den Schiller und dann später noch den Schmidt. Es galt 1989/90 leider nicht für Kohl.
Kennen Spitzenpolitiker eigentlich so etwas wie Neid auf andere Politiker?
Das mag es wohl geben. Das Wort Neid bezieht sich eigentlich immer auf Vermögen oder auf Status – der hat etwas, was ich nicht habe. Das gibt es im menschlichen Leben überall, unter Managern, Sportlern, Musikern und Malern. Auch unter Politikern.
Und bei Ihnen? Wären Sie 1989 nicht gern Kanzler gewesen?
Auf die Idee bin ich noch nie gekommen.
Und wenn Sie jetzt darüber nachdenken?
Nein, dafür war ich ein bisschen zu alt, 1989 war ich immerhin über siebzig.
Kohl wird als Kanzler der Einheit in die Geschichte eingehen. Haben Sie nie gedacht: Dieses Verdienst hätte ich mir auch gern erworben?
Nein. Ich bin ganz bewusst in den achtziger Jahren aus der Politik ausgeschieden. Ich habe einen Strich gezogen und mich auch nicht mit Reden in die Innenpolitik eingemischt, nur gelegentlich mit Artikeln in der ZEIT .
Seinen Platz in der Geschichte kann Kohl niemand mehr streitig machen?
Das würde ich bejahen, obwohl dieser Platz noch nicht wirklich definiert ist. Es ist ganz eindeutig: Ohne Kohl wäre möglicherweise die Chance zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1989/90 nicht so genutzt worden. Ebenso eindeutig ist aber, dass er die Vereinigung niemals allein hätte bewerkstelligen können, auch nicht mit noch so vielen gemeinsamen Saunabesuchen, denn sämtliche europäischen Regierungen waren dagegen. Kohl brauchte insbesondere die Amerikaner, und das war nicht nur Bush Vater, sondern auch Außenminister James Baker. Sie haben es geschafft, die Europäer auf eine andere Schiene zu bringen.
Sie sagen, Kohls Platz in der Geschichte sei noch nicht endgültig definiert. Gilt das auch für Ihren?
Das gilt für jedermanns Platz in der Geschichte. Neulich habe ich mit Fritz Stern über Friedrich den Großen von Preußen gesprochen. Der war zwar nach innen liberal, nach außen aber hat er einen Krieg nach dem anderen geführt; er war ein Alexander der Große im Taschenformat. Das heißt, das Urteil über Friedrich II. verändert sich, je nachdem, welchen Aspekt seines Wirkens man betrachtet. Das gilt übrigens auch für einen anderen Friedrich II., nämlich den Staufer, Kaiser des Römischen Reiches. Auch sein Platz in der Geschichte ist nicht endgültig definiert.
Aber die Liga ist schon mal nicht schlecht: zweimal Friedrich II., Helmut Schmidt, Helmut Kohl!
Das machen Sie jetzt, das kann ich nicht unterschreiben. (lacht)
Was wünschen Sie Helmut Kohl zum Achtzigsten?
Wenn ich ihm etwas wünschen darf, dann wünsche ich ihm möglichst wenig Schmerzen und möglichst erträgliche Begleiterscheinungen des Alters.
25. März 2010
»Was ich nicht möchte, ist Deutschland als eine große Macht«
Über die Verführbarkeit der Deutschen
Lieber Herr Schmidt, in Ihrem neuen Buch, das Sie zusammen mit dem deutsch-amerikanischen Historiker Fritz Stern veröffentlicht haben, gibt es eine Stelle, die ich nicht verstehe. Darf ich sie Ihnen vorlesen?
Ich höre.
Sie sagen da: »Mein Vertrauen in die Kontinuität der deutschen Entwicklung ist nicht sonderlich groß. Die Deutschen bleiben eine verführbare Nation – in höherem Maße verführbar als andere.« Was stützt diese Aussage?
Es ist keine wissenschaftliche Aussage. Sie kommt aus dem Gefühl, aus dem politischen Instinkt.
Sogar Fritz Stern, der im Alter von zwölf Jahren mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten fliehen musste, hat Ihnen da widersprochen und gesagt, dass alle Völker verführbar seien.
Ich habe die Straßenkämpfe zwischen Kommunisten und Nazis in Hamburg miterlebt, da war ich 14. Ich habe als Heranwachsender die Nazizeit und den Krieg erlebt und die Verführungen, denen die Masse der Deutschen damals erlegen ist. Ich habe erlebt, dass insbesondere junge und intelligente Leute bereit waren, den aus der 68er-Bewegung hervorgegangenen Terroristen leise und heimlich Beifall zu zollen. Ich habe miterlebt, wie die Deutschen von der Angst vor dem Waldsterben ergriffen wurden. Dann kam die Kriegsangst der Friedensbewegung. Dann habe ich die Angst vor dem
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