Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)
zwischen einer Weltrezession und der Arbeitslosigkeit in Deutschland gibt; sie gaben der eigenen Regierung die alleinige Schuld an der Arbeitslosigkeit. Wenn wir aber ein Viertel unseres Sozialproduktes exportieren, dann hängen wir von der Nachfrage auf den Weltmärkten ab. Das ist vielen Leuten zu kompliziert, aber es ist richtig, und es hat gar keinen Zweck, darüber hinwegzupfuschen.
Entspricht es Ihrer Erfahrung als Politiker, dass man den Bürgern gerade im Wahlkampf nicht die Wahrheit sagt?
Es entspricht nicht meiner persönlichen Erfahrung, aber ich habe sehr wohl beobachtet, dass Politiker aller Parteien sich in Wahlkämpfen häufig genug dazu verleiten lassen, Dinge, die wahr, aber unangenehm sind, zu verschweigen oder zu beschönigen. Wahlkämpfe sind keine Festivals der Ehrlichkeit.
Das ist kein neues Phänomen.
Richtig, das war schon zu Zeiten des Perikles im alten Athen so, heute vor zweieinhalbtausend Jahren.
Aber profitieren Politiker nicht langfristig davon, wenn sie die Wahrheit sagen?
Die Frage ist, wie lang ist langfristig? Es mag sich nach vielen Jahren oder gar Jahrzehnten auszahlen, wenn ein Politiker oder eine Partei immer ehrlich gewesen ist. In der konkreten Situation eines Wahlkampfs kann die Wahrheit dem Erfolg aber im Weg stehen. Es kommt natürlich auch immer sehr darauf an, wie der Politiker, der da redet, auf das Publikum als Person wirkt. Die persönliche Ausstrahlung ist mindestens ebenso wichtig wie der Inhalt einer Rede. Wenn jemand persönlich unappetitlich wirkt, kann seine Rede noch so klug sein, dann kommt er nicht an.
Auch ein Schuft könnte also gewählt werden, wenn er nur gut im Fernsehen wirkt?
Ja, das ist so.
Obwohl es doch heißt: Ab dreißig ist jeder selbst für sein Gesicht verantwortlich. Einen Schuft müsste man demnach an seinem Gesicht erkennen.
Ich würde eher sagen: Ab dreißig ist jeder selbst für seinen Charakter verantwortlich.
Würden Sie auch sagen, dass es zu den wichtigsten Aufgaben eines Politikers gehört, den Bürgern schwierige Entscheidungen nahezubringen?
Das kommt auf den Einzelfall an. Wenn ein Politiker für eine schwierige Entscheidung die Zustimmung des Parlaments braucht, dann muss er dem Parlament auch die Gründe für diese Entscheidung plausibel machen. Und er muss ihm plausibel machen, welche negativen Folgen eintreten würden, wenn man die Entscheidung gar nicht oder anders träfe. Das gehört alles dazu. Wenn der Politiker das Parlament aber nicht braucht, muss er nicht jede Entscheidung öffentlich begründen.
Es sind die Bürger, die sich danach sehnen, dass ihnen Politiker komplizierte Entscheidungen besser erklären: die Agenda 2010, die Einsätze der Bundeswehr oder die Maßnahmen zur Bewältigung der Finanzkrise.
Das, was Sie sagen, gilt nach meinem Urteil für die Agenda 2010. Die ist nicht richtig erklärt worden. Sie hatte auch ein paar kleine handwerkliche Fehler.
Wo ist die Grenze zwischen rhetorischer Überzeugungskraft und purer Demagogie?
Ich kann das an einem Beispiel festmachen: Wenn ich lese, wie die auflagenstärkste europäische Tageszeitung, genannt Bild , in den letzten Wochen beinahe jeden Tag den Lesern klargemacht hat, dass man sein eigenes Geld nicht dafür verwenden sollte, dem aus eigener Schuld in Not geratenen Nachbarstaat Griechenland zu helfen, dann ist das in Wirklichkeit Demagogie oder, wenn Sie so wollen, ein Missbrauch der Pressefreiheit.
Es ist auch ein Indiz dafür, dass Zeitungen in Versuchung geraten, solche Positionen einzunehmen, wenn es im Parteienspektrum niemanden gibt, der das tut.
Für Demagogie, sei es seitens einzelner Politiker oder politischer Parteien, einer Zeitung oder einer Fernsehanstalt, gibt es niemals eine Entschuldigung. Es gibt immer eine Erklärung, aber keine Entschuldigung.
Haben Sie nach dem Krieg deutsche Politiker mit demagogischer Begabung erlebt?
Mehrere, ich selber habe auch dazugehört und zuweilen demagogische Reden gehalten. Das ist allerdings ein halbes Jahrhundert her.
Ist das ein spätes Schuldeingeständnis?
Wenn Sie so wollen, können Sie das so sagen, ja.
Haben Sie ein Beispiel parat?
Ich erinnere mich an einen Vorfall, das muss 1958 gewesen sein: Ein Parlamentsmitglied, Freiherr von und zu Guttenberg, der Großvater des jetzigen Verteidigungsministers, hatte die Sozialdemokraten in demagogischer Weise angegriffen und sinngemäß gesagt: Das, was ihr Sozialdemokraten wollt, unterscheidet sich in Wirklichkeit kaum von dem, was der
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