Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)
Kräfteverhältnis, bezogen auf die einzelne Arbeitsstunde oder den einzelnen Menschen, bei etwa fünf zu drei, 1989 bei zehn zu drei. Das hat man gewusst, das haben auch die Redakteure der ZEIT gewusst. Wer es nicht wirklich gewusst hat, war die damalige Bundesregierung.
Wie war es dann möglich, dass viele kluge Köpfe, auch bei der ZEIT , die Wiedervereinigung noch Ende der achtziger Jahre für unmöglich gehalten haben?
Kein Mensch ist vor Fehlern gefeit. Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen: Im Dezember 1981 traf ich mich mit Erich Honecker in Güstrow und lud ihn anschließend zum Gegenbesuch in die Bundesrepublik ein. Helmut Kohl hielt diese Einladung aufrecht, aber Honeckers Gegenbesuch kam erst im September 1987 zustande. Kurz zuvor schrieb ich in der ZEIT : Jetzt haben wir von den Deutschen in der DDR jahrzehntelang als von unseren Brüdern und Schwestern geredet. Auch wenn Erich Honecker und wir politisch und parteipolitisch nie Freunde werden können, lasst uns ihn würdig empfangen – empfangt ihn als einen unserer Brüder.
Gitta Heuß, 33, Marketingleiterin aus Hamburg, fragt: »Sind Sie ein Mensch, frei von Zweifeln, was Ihre politischen Überzeugungen angeht? Sie wirken so.«
Ob es sich um grundsätzliche Überzeugungen handelt oder aber um Antworten auf drängende aktuelle Fragen, ich habe mir immer viel Zeit genommen, um eine Sache von allen Seiten zu durchdenken, habe mit anderen darüber gesprochen und Ratschläge eingeholt. Wenn ich dann zu einer Entscheidung gekommen bin, habe ich hinterher kaum jemals Zweifel gehabt. Allerdings hatte ich nicht immer so viel Zeit. Die RAF zum Beispiel hat uns mit ihren mörderischen Aktivitäten diese Zeit oft nicht gelassen.
Marion Pajnik, 24, Studentin aus Würzburg, möchte von Ihnen wissen, warum es in ihrer Generation keine Gentlemen mehr gibt.
Gentlemen im englischen Sinne des Wortes hat es in Deutschland sowieso nur ein paar gegeben, und einige davon waren Fatzkes.
Was ist denn ein Fatzke, Herr Schmidt?
Die haben so getan, als ob. Aber persönlichen Anstand hat es in Deutschland immer auch gegeben, und es gibt ihn heute genauso wie früher.
Eine von vielen Leserfragen, die sich ums Rauchen drehen, hat uns Weinhändler Jürgen Gödecke, 49, aus Langen geschickt: »Rauchen und Weintrinken passen eigentlich nicht zusammen. Kennen Sie trotzdem einen Wein, den man zu einer Zigarette trinken kann?«
Ich bin kein guter Weintrinker, ich trinke lieber einen Whisky. Und den durchaus auch zur Zigarette.
Sabine Schelsky, 33, selbstständige Medienberaterin aus Greifswald, fragt: »Was werden wir eines fernen Tages nur ohne Sie machen?«
(schweigt lange) Das müsst ihr selber wissen.
4. November 2010
»Möglicherweise kommt das alles von Dschingis Khan«
Autobiografisches
Lieber Herr Schmidt, lesen Sie eigentlich Autobiografien?
Nein. Wenn jemand über sein eigenes Leben schreibt, ist er der Versuchung ausgesetzt, sich ein bisschen schöner zu malen, als er in Wirklichkeit ist. Und natürlich erliegt er dieser Versuchung auch dann und wann. Deswegen halte ich von Autobiografien nicht sehr viel. Die letzte, die ich sorgfältig studiert habe, war die von Bismarck. Das liegt jetzt mehr als 70 Jahre zurück.
Und was ist mit Ihren eigenen autobiografischen Büchern? Kennen Sie diese Versuchung, die Sie beschreiben, auch von sich selbst?
Nicht nur, aber auch. Übrigens schließen meine Bücher nur zum Teil eigene Erfahrungen ein. Eine zusammenhängende Selbstdarstellung habe ich nie geschrieben. Die meisten autobiografischen Bezüge gibt es in »Außer Dienst« – das ist auch ein Versuch, eine Art Bilanz zu ziehen.
Warum eine solche Bilanz, wenn Sie Memoiren so wenig schätzen?
Weil ich aufschreiben wollte, was ich glaube, im Laufe meines Lebens gelernt zu haben. Vielleicht können Jüngere daraus Nutzen ziehen. Im Übrigen ist kein Mensch ohne innere Widersprüche. Das nehme ich auch für mich in Anspruch.
Gibt es Erlebnisse, an die Sie sich ungern erinnern oder die Sie am liebsten ein bisschen schöner machen würden?
Es gibt eine Geschichte aus meiner Jugend, an die ich mich sehr ungern erinnere. Sie hat mit meinem Großvater zu tun, dem leiblichen Vater meines Vaters. Meine Mutter wusste von ihm, und sie hat immer zu mir gesagt: Du darfst mit niemandem darüber sprechen. Tatsächlich habe ich mit meinem Vater erst über meinen Großvater gesprochen, als ich 1942 zu meiner großen Überraschung plötzlich einen sogenannten arischen
Weitere Kostenlose Bücher