Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)
Abstammungsnachweis brauchte. Die Tatsache, dass ich die acht, neun Jahre davor nie mit meinem Vater über unsere Abstammung geredet hatte, hat mich sehr belastet. Ich habe es als zutiefst ungehörig empfunden, dass eine so wichtige Sache zwischen Sohn und Vater unausgesprochen blieb.
Haben Sie die jüdische Abstammung damals als Schande empfunden?
Nein, gar nicht. Mein Vater hat unter seiner unehelichen Geburt gelitten. Außerdem hatte er während der Nazizeit Angst, dass jemand von seinem jüdischen Vater erfahren könnte. Er hatte sich eine Bescheinigung beschafft, in der stand, von Amts wegen festgestellt: »Vater unbekannt«. Er war sehr kleinbürgerlich erzogen worden und litt unter seiner unehelichen Geburt. Das hatte aber mit jüdisch oder nicht jüdisch gar nichts zu tun.
Wissen Sie inzwischen mehr über Ihren Großvater?
Vor zwanzig Jahren habe ich ein Institut, das sich mit der Geschichte der in Hamburg lebenden Juden beschäftigte, gebeten, sich für diesen Mann zu interessieren. Die haben aber nicht viel herausgefunden. Andere haben über meinen jüdischen Großvater Aufsätze geschrieben, aber ich habe das inzwischen alles wieder vergessen. Das spielt für mich überhaupt keine Rolle. Bei meinem Vater war das anders. Die Angst davor, dass seine wahre Abstammung herauskommt, hat ihn zerstört. Er ist 1888 geboren, war Ende des Zweiten Weltkriegs also noch keine Sechzig. Aber er war da schon jemand, der keine Entscheidungen mehr treffen konnte, die sein eigenes Leben betrafen.
Welche Eigenschaften haben Sie von Ihren Eltern geerbt?
Ich verstehe nicht genug von Vererbung. Man weiß ja nicht, welche Gene man von wem bekommen hat. Meine Frau hatte einen leicht ostasiatischen Zug im Gesicht – und pflegte immer zu sagen, sie stamme von Dschingis Khan ab. Das war Spaß, aber ein wenig Ernst war auch dabei. Und Dschingis Khan lebte ja 800 Jahre vor uns.
Wie haben Sie denn Ihren Vater in Erinnerung?
Mein Vater wurde als Säugling von seinen leiblichen Eltern weggegeben, weil er ein uneheliches Kind war. Er ist dann von sehr einfachen Leuten adoptiert worden. Sein Adoptivvater war ein ungelernter Stauereiarbeiter, der im Hafen einen Kran bedient und das Stückgut vom Schiff gelöscht und aufgeladen hat. Er konnte zwar einigermaßen die Zeitung lesen, aber schon mit dem Schreiben hatte er Probleme. Seine Frau stammte vom Dorf. Mein Vater hing sehr an ihr. Er hat erst später erfahren, dass sie nicht seine leibliche Mutter war.
Hat er mit Ihnen darüber gesprochen?
Sehr wenig. Mein Vater war, wie man heute sagen würde, ein Volksschüler mit Grundschulabschluss. Weil er intelligent war, hat ihm jemand eine Lehrstelle als Rechtsanwaltsgehilfe vermittelt. Später haben sie ihn dann in ein Lehrerseminar gesteckt, und so ist er vor dem Ersten Weltkrieg Volksschullehrer geworden. Nachdem er aus dem Krieg heimgekehrt war, studierte er abends nach der Arbeit und erwarb das Handelslehrer-Diplom. Er wurde Studienrat und sogar Schulleiter, bis die Nazis ihn 1933 oder 1934 absägten. Mein Vater hat eine unglaubliche Energie entwickelt, um nach oben zu kommen.
Er war ein Aufsteiger.
Ja. Er war intelligent, sehr autoritär, und er hat immerzu gearbeitet. So habe ich es in Erinnerung: Wenn er zu Hause war, saß er am Schreibtisch. Das hing wohl mit dem Abendstudium zusammen. Als Kind sehe ich ihn immer am Schreibtisch sitzen. Er durfte nicht gestört werden. Vati muss arbeiten.
Sie sitzen auch fast immer am Schreibtisch.
Stimmt, faul bin ich nie gewesen. Aber von wem das nun kommt, das weiß der Kuckuck. Möglicherweise kommt das alles von Dschingis Khan.
Jetzt haben wir schon so viele Gespräche geführt, und ich habe schon so viel von Ihnen erfahren. Aber es gibt da etwas, was ich bis zum heutigen Tag nicht verstehe: dass Sie von der Judenverfolgung unter den Nationalsozialisten erst nach dem Zusammenbruch der Diktatur erfahren haben wollen, dass Sie angeblich erst durch die Freundschaft zu dem Historiker Fritz Stern, der deutsch-jüdischer Abstammung ist, begriffen haben, was ein Jude ist. Es kann doch damals in Deutschland keinem normalen Menschen entgangen sein, wie gegen Juden gehetzt wurde, wie sie aus dem öffentlichen Leben gedrängt und gedemütigt wurden.
Die Propaganda ist mir keineswegs entgangen. Ich musste ja zu Fuß zur Klavierstunde und bin jede Woche auf dem Hin- und Rückweg an einem Kasten vorbeigegangen, in dem unter Draht Der Stürmer auslag. Den fand ich ekelhaft. Nein, dass die Juden
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