Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)
schlecht behandelt wurden, war klar; dass sie gefährdet waren, war auch klar; aber dass sie umgebracht wurden, das habe ich nicht gewusst. Ich nehme auch an, dass mein Vater es nicht gewusst hat.
Auch in Ihrer langen Zeit als Wehrmachtssoldat haben Sie das nicht mitbekommen?
Nein, überhaupt nicht.
Haben die Soldaten von der Ostfront nie berichtet?
Ich bin doch selbst Ostfrontsoldat gewesen, 1. Panzerdivision, ganz vorn! Nein!
Sie haben nichts gewusst von den Massenhinrichtungen und Deportationen, die es dort gegeben hat?
Das war alles im »rückwärtigen Gebiet«, wie man früher zu sagen pflegte, ein Ausdruck aus dem Ersten Weltkrieg. Da vorn, wo wir waren, gab es das nicht. Nein, ich habe es nicht mitgekriegt. Fritz Stern kann das nicht verstehen, und Sie können es offenbar auch nicht verstehen. Aber es war so. Warum sollte ich etwas anderes erzählen als das, was ich erlebt habe?
Ärzte, Anwälte, Ladeninhaber und Klassenkameraden verschwanden von einem Tag auf den anderen, haben Sie das auch nicht mitbekommen?
Einige Klassenkameraden verschwanden, ja. Die sind rechtzeitig ausgewandert.
Wussten Sie damals, warum sie auswandern mussten?
1933 war ich gerade 14 geworden, also eigentlich noch ein Kind. Da habe ich nicht begriffen, dass das mit dem sogenannten Judentum zu tun hatte. Da war dann plötzlich mein Schulfreund Helmuth Gerson mit seinen Eltern ausgewandert. 15 Jahre später hat er mich am Brahmsee besucht.
Wohin hatte es ihn verschlagen?
Nach Kalifornien. Das waren ja erstaunliche Schicksale! Michael Blumenthal ist auch so ein Fall …
… der Direktor des Jüdischen Museums in Berlin …
… ja, er ist ein paar Jahre jünger als ich, wohl 1926 in Berlin geboren, und erst sehr spät aus Nazideutschland geflüchtet, nach Shanghai. Von dort ist er in die USA ausgewandert, 1977 wurde er Finanzminister unter Präsident Carter. Wir hatten beruflich miteinander zu tun und haben uns angefreundet, aber ich hatte zunächst keine Ahnung, dass er mal Deutscher war.
Weil Sie gerade Jimmy Carter erwähnen – haben Sie eine Erklärung dafür, dass er in seinem White-House-Tagebuch, das gerade veröffentlicht wurde, so auf Sie eindrischt?
Das kann ich gut verstehen. Er hat sich furchtbar über mich geärgert.
Warum?
Das weiß ich nicht mehr. Ich habe mich aber auch über ihn geärgert.
Wussten Sie, dass die CIA damals sogar ein Psychogramm von Ihnen anfertigte, um herauszufinden, warum Sie Carter gegenüber so feindselig eingestellt waren?
Das wusste ich nicht. Heutzutage bräuchte man die CIA nicht mehr, da würde WikiLeaks genügen. Aber im Ernst: Ich war nicht feindselig, ich war und bin ja im Prinzip proamerikanisch eingestellt. Daran hat auch Jimmy Carter nichts geändert. Er war ein ganz wohlmeinender Politiker, der immer das Beste wollte, ein anständiger Mensch. Aber es ist mir mehrfach passiert, dass wir etwas miteinander verabredet hatten und er nach ein paar Wochen einfach seine Meinung geändert hat.
Genau das hält er in seinem Tagebuch Ihnen vor!
Davon weiß ich nichts. Ich habe es nicht gelesen und muss es auch nicht lesen.
George W. Bush wirft Gerhard Schröder in seinen Memoiren vor, wortbrüchig geworden zu sein: Erst habe Schröder ihm Unterstützung im Irakkrieg zugesagt, dann sei er davon wieder abgerückt.
Ich würde die Memoiren von George Bush genauso wenig lesen wie die von anderen. Ich habe das Vorurteil, dass sie nicht wichtig sind. Die Haltung Schröders, sich am Irakkrieg nicht zu beteiligen, war absolut notwendig und richtig. Da bleibe ich bei meiner Meinung.
Sie haben eben schon auf die WikiLeaks-Affäre angespielt: Braucht die Öffentlichkeit den Geheimnisverrat, um an bestimmte Wahrheiten heranzukommen?
Zunächst einmal braucht sie den Geheimnisverrat, um ihre Sucht nach Kriminalstorys befriedigen zu können. Es macht ja vielen Leuten Spaß, so etwas zu lesen. Für die amerikanische Regierung dagegen sind diese Veröffentlichungen eine schlimme Sache, die diplomatischen Beziehungen werden eine Zeit lang beeinträchtigt sein. Aber die Amerikaner werden das überwinden.
Haben Sie Verständnis dafür, dass einige Zeitungen die WikiLeaks-Protokolle veröffentlicht haben?
Ich habe dafür Verständnis, aber keine Sympathie.
Ist es nicht im Interesse der Demokratie, geheime Dokumente zu veröffentlichen, wenn sie eine Großmacht belasten?
Das würde ich bejahen. Bei solchen Sachen wie Abu Ghraib oder Guantánamo würde ich sogar sagen, dass es eine moralische
Weitere Kostenlose Bücher