Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)
eigentlich gemeint war. Er stand allerdings die ganze Zeit unter dem Druck von Lambsdorff.
Als die Grünen 1985 in Hessen erstmals vor einer Regierungsbeteiligung standen, forderten sie öffentliche Koalitionsverhandlungen. War das eine gute demokratische Idee?
Dummes Zeug.
Warum?
Die Grünen waren ganz neu, hatten weder Verwaltungs- noch Regierungserfahrung. Was sie hatten, war eine Vielfalt von politischen Inhalten. Zum Teil ging es um Naturschutz, zum Teil um den Frieden, zum Teil um kommunistische Ideale. Wer in den achtziger Jahren mit ihnen verhandeln musste, hatte es nicht mit einem klaren Profil zu tun. Ich musste niemals mit ihnen verhandeln.
Ihr Freund Holger Börner schon.
Ich weiß nicht, wie dem zumute war. Aber die Idee, Koalitionsgespräche öffentlich zu führen, ist absurd. Stellen Sie sich vor, Sie fangen mit einem Kollegen von einer anderen Fraktion an zu reden; und dann wird es plötzlich ernst, und Sie überlegen, ob Sie sich als Koalition zusammentun. Und Sie machen das alles vor den Augen der Öffentlichkeit! Das ist eine Schnapsidee.
Jetzt hat sich die Piratenpartei die Forderung nach größtmöglicher Transparenz auf die Fahnen geschrieben. Kann man diese Gruppierung mit den frühen Grünen vergleichen?
Ja. Die Piraten sind in derselben Lage wie die Grünen in den achtziger Jahren.
Haben Sie ein klares Bild von den Piraten?
Nein. Es ist eine heterogene Gruppierung, die bislang nur in Berlin richtig in Erscheinung getreten ist. Man muss in jeder Demokratie immer damit rechnen, dass links oder rechts neue Parteien entstehen.
Aber doch nur dann, wenn die etablierten Parteien ein bestimmtes Spektrum nicht mehr abdecken.
Das würde ich nicht so eindimensional sehen. Es kann viele Anlässe dafür geben, eine neue Partei zu gründen. Wenn die sogenannten etablierten Parteien an Vitalität verlieren oder wenn sie Fehler gemacht haben, wenn es Skandale gibt, die eine Partei in Verruf bringen – auch dann kann es zu Neugründungen oder Abspaltungen kommen.
Einem alten Hamburger wie Ihnen müssten die Piraten doch ganz sympathisch sein, zumindest dem Namen nach.
Für mich ist der Ausdruck »Pirat« die Bezeichnung einer bestimmten Klasse von Jollen, mit denen man auf der Alster segelt.
Sind das gute Jollen?
Ja. Es sind Zwei-Mann-Jollen, für junge Leute. Ziemlich flott.
Dürfen Koalitionsverhandlungen an 3,5 Kilometern Autobahn scheitern?
Das kommt mir einigermaßen erstaunlich vor. Aber die Gespräche zwischen SPD und Grünen in Berlin sind wahrscheinlich nicht nur daran gescheitert. Ich kann das von Weitem nicht beurteilen. Dass die Verhandlungen nur an diesem kurzen Stück Stadtautobahn gescheitert sein sollen, kann ich mir kaum vorstellen. Die haben sich vielleicht von vornherein gegenseitig nicht besonders gemocht.
3. November 2011
»Occupy hat meine Sympathie«
Über Gerechtigkeit als eine immerwährende Aufgabe
Lieber Herr Schmidt, in Ihrer Rede auf dem SPD-Parteitag Anfang Dezember haben Sie gesagt, Sie fühlten sich immer noch den drei Grundwerten des Godesberger Programms verpflichtet – Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. Dabei ist mir aufgefallen: Über Gerechtigkeit haben wir in all den Jahren, wenn überhaupt, nur sehr wenig gesprochen.
Wenn das so ist, dann ist es Ihre Verantwortung; denn Sie stellen die Fragen.
Kann es nicht auch sein, dass es schwer ist, etwas Vernünftiges über Gerechtigkeit zu sagen?
(lange Pause) Es ist nicht schwieriger, als über Brüderlichkeit, Solidarität oder Nächstenliebe zu sprechen. Aber das sind alles Schlagworte …
… deren Gebrauch gelegentlich etwas inflationär wirkt.
Ja, und die mit sehr unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden können.
Welcher Aspekt von Gerechtigkeit ist Ihnen denn besonders wichtig?
Chancengleichheit für Kinder, Schüler und junge Leute. Und das schließt natürlich Kinder mit sogenanntem Migrationshintergrund ein. Es ist gerecht, allen die gleichen Chancen zu geben. Was der Einzelne dann daraus macht, ist eine andere Frage. Der eine macht das Abitur, vielleicht sogar den Doktor phil., der andere wird Dachdeckermeister, ein Dritter bleibt ungelernter Arbeiter – das ist in meinen Augen in Ordnung, wenn alle drei von Anfang an die gleichen Chancen hatten.
War die deutsche Gesellschaft früher nicht etwas durchlässiger und der Aufstiegswille ausgeprägter als heute?
Es war schon mal etwas besser, nämlich unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, zu Beginn der Weimarer Zeit. Da konnten
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