Verstehen Sie das, Herr Schmidt? (German Edition)
Leute wie mein Vater, der eine reine Grundschulausbildung hatte, in ihrer Jugend Volkshochschulen besuchen, Seminare belegen, nachträglich ein Arbeiterabitur machen und studieren. Mein Vater war der Sohn eines ungelernten Arbeiters, aber er hat es bis zum Leiter einer Berufsschule in Hamburg gebracht. Das war ein typisches Beispiel dafür, was zu Beginn der Weimarer Zeit möglich war. Die damalige Gesellschaft hatte es allerdings auch etwas leichter, weil sie nicht viele Migranten integrieren musste.
Spielte damals nicht auch der starke Aufstiegsgedanke in der Arbeiterschaft eine Rolle?
Eine ganz große Rolle. Man wollte es zu etwas bringen oder zumindest seinen Kindern Bildung und Aufstieg ermöglichen. Die Arbeiterbildungsbewegung erreichte in den zwanziger Jahren ihren Höhepunkt, danach wurde sie von der Arbeitslosigkeit erdrückt.
Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es viele junge Leute aus kleinen Verhältnissen, die sich auf dem zweiten Bildungsweg durchgeboxt haben, zum Beispiel einen Gerhard Schröder, der als Sohn einer Putzfrau und eines Kirmesarbeiters Bundeskanzler werden konnte.
Das ist zwar ein schönes, aber für die Zeit unmittelbar nach 1945 nicht unbedingt typisches Beispiel. Arbeiterabitur und Arbeiterstudium gab es damals nicht mehr, und der zweite Bildungsweg wurde erst im Zuge der Bildungsexpansion in den späten sechziger Jahren richtig ausgebaut.
Heute gibt es Familien, die in dritter Generation von Hartz IV leben und schlichtweg aufgegeben haben.
Es kann durchaus sein, dass es eine Reihe solcher Einzelfälle gibt. Sie sind aber sicherlich nicht typisch für das, was manche heute als Unterschicht bezeichnen.
Eliteforscher sagen, ein Arbeiterkind habe es in Deutschland etwa zehnmal so schwer, eine Führungsposition in der Wirtschaft zu erreichen, wie das Kind eines leitenden Angestellten. Und dieser Trend wird offenbar nicht besser, sondern schlechter.
Ich misstraue solchen Untersuchungen. Richtig ist aber ganz gewiss, dass ein Kind es leichter hat, wenn es im Wohlstand aufwächst und in einer häuslichen Atmosphäre, in der nicht nur Lesen und Schreiben selbstverständlich sind, sondern auch Theater- und Konzertbesuche.
Finden Sie denn die Einkommensverteilung in Deutschland noch gerecht?
Deutschland hat sich im Wesentlichen nach amerikanischem und englischem Beispiel gerichtet, und das ist eine negative Entwicklung. Für einen Mann wie Hans Merkle, der zwei Jahrzehnte lang Chef von Bosch war, wäre es undenkbar gewesen, solche Gehälter und Bonifikationen zu verlangen, wie sie heute in einigen Firmen der deutschen produzierenden Industrie und noch mehr in der Finanzindustrie selbstverständlich geworden sind. Diese Fehlentwicklung begann in Deutschland in den neunziger Jahren, im Zuge der Globalisierung des Bankwesens, aber auch der Industrie.
Sie meinen, es gab schlechte Beispiele aus dem Ausland?
Die Globalisierung hat deutsche Manager mit den Sitten und Gebräuchen in Kontakt gebracht, wie sie in Amerika und England üblich sind, auch mit einigen korrumpierenden und korrumpierten Verhaltensweisen von Managern und Unternehmern in einigen anderen europäischen Staaten. Wir haben inzwischen nicht nur bei manchen Managern, sondern auch bei manchen Facharbeitern und ungelernten Arbeitern einen erheblichen Teil von Schwarzeinkommen. Das hat es in diesem Ausmaß in Deutschland noch vor wenigen Jahrzehnten kaum gegeben. Viel schlimmer aber ist die Selbstbereicherung des Managements.
Weil die soziale Kontrolle damals stärker war als heute?
Ja, die Kontrolle durch das gesellschaftliche Umfeld war stärker.
Ist es in langen Phasen des Friedens und des Wohlstands nicht zwangsläufig so, dass die Schere zwischen denjenigen, deren Vorfahren schon etwas besessen haben, und jenen, die nichts besitzen, immer größer wird, allein schon wegen der Erbschaften?
Ein beträchtliches Erbe kann eine große Rolle spielen. Dass es heute große Unterschiede zwischen Armen und Reichen gibt, hängt natürlich auch damit zusammen, dass die deutsche Gesellschaft in der jüngsten Geschichte dreimal stark durcheinandergewürfelt worden ist: zunächst durch die Aufnahme von vielen Millionen Menschen aus ehemals deutschen Gebieten, dann durch die Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten und drittens durch die Aufnahme von sieben Millionen Ausländern, zum Teil mit ganz anderen Lebensgewohnheiten, auf die man nicht vorbereitet war.
Viele deutsche Rentner bekommen heute eine Rente, die
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