Verstohlene Blicke - Erotischer Roman
unterhalten.« Sein Lächeln erreichte seine grauen Augen nicht.
»Danke.« Auch Nora zog nun mehr aus Höflichkeit denn aus Überzeugung die Mundwinkel hoch. Wieder tauchte ein dunkles Gepäckstück auf, und wieder war es nicht ihres.
»Ehrlich gesagt, wusste ich schon, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, dass Ihnen eine große Zukunft bevorsteht. Es ist immer wieder wunderbar zu erleben, wenn ehemalige Studenten und Studentinnen erfolgreich sind.« Nun leuchteten seine Augen doch.
»Sie erinnern sich noch an das Seminar über Double Binding und Schizophrenie, das Sie damals als Lehrstuhlvertretung abgehalten haben? Das ist über zehn Jahre her! Sie haben nach dem einen Semester hier in Bielefeld den Ruf nach Göttingen bekommen.« Verblüfft starrte Nora den schmalschultrigen Mann mit dem dichten sandfarbenen Haar an.
»Ich sagte doch, es ist eine der schönsten Seiten meines Berufes, talentierten jungen Menschen zu begegnen. Nicht, dass das allzu häufig vorkäme. Gerade deshalb erinnere ich mich natürlich sehr deutlich an Sie.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Vielen Dank.« Erstaunt spürte Nora die Verlegenheit, die die Worte des Professors bei ihr auslösten. Was vielleicht daran lag, dass sie sich unvermittelt in ihre Studienzeit zurückversetzt fühlte. Damals war sie sehr ehrgeizig, aber immer auch ein wenig unsicher gewesen. Nie hatten ihre Arbeiten ihren eigenen Ansprüchen genügt und guten Bewertungen hatte sie grundsätzlich misstraut. Heute, mit 36 Jahren und nach fast acht Jahren als Therapeutin, sah das ein wenig anders aus. Dennoch brauchte es offenbar nur eine zufällige Begegnung und ein paar Worte, um die Vergangenheit und die Gefühle von damals wieder aufleben zu lassen.
»Es gibt keinen Grund, sich bei mir zu bedanken.« Andersens Lächeln war warm und freundlich. Er legte für einen kurzen Moment die Hand auf Noras Oberarm und zog sie sofort wieder zurück.
»Da ist er ja endlich!« Nora atmete erleichtert auf und zeigte auf den dunkelblauen Trolley, der gerade seine erste Runde auf dem Laufband begonnen hatte.
Sie stürzte auf ihren Koffer zu, als müsste sie befürchten, er würde sich im nächsten Augenblick vor ihren Augen in Luft auflösen. In ihrem Rücken meinte sie Andersens Blick zu spüren.
Nachdem sie den Trolley vom Band gezerrt hatte, kehrte sie zu Andersen zurück, um sich zu verabschieden.
»Ich fürchte, es sieht nicht aus, als käme ich von einer dreitägigen Konferenz, sondern als wollte ich nach Neuseeland auswandern.« Sie zog die Schultern hoch, deutete auf ihren großen Koffer und wusste im selben Moment, dass sie aus Unsicherheit zu viel redete.
»Irgendwo muss man ja all die Unterlagen verstauen, nicht wahr?« Andersen lächelte verständnisvoll. Immerhin verstand er, dass sie nicht etwa für jeden Tag drei Kleider zum Wechseln mit sich herumschleppte.
»Ja – dann hoffe ich, dass Ihr Gepäck auch noch auftaucht.« Nora hielt ihm die Hand hin, die er seltsam hastig ergriff und ein wenig zu fest drückte.
»Und ich hoffe, dass wir uns bald einmal ausführlicher fachlich austauschen können. Sie wissen, dass ich seit Semesterbeginn hier am Ort lehre?«
Nora nickte, obwohl sie keine Ahnung gehabt hatte, dass Andersen die altehrwürdige Göttinger Fakultät zugunsten der viel jüngeren hiesigen Universität verlassen hatte. »Vielen Dank. Auch für Ihren äußerst interessanten Vortrag. Ich habe eine Menge gelernt.« Ihre Worte waren ehrlich gemeint, aber Nora war unter dem forschenden Blick sehr unbehaglich zumute.
Als sie mit ihrem Trolley die Halle durchquerte, wusste sie nicht recht, ob sie sich wegen der lobenden Worte des Professors geschmeichelt fühlen sollte oder ob ihr die Begegnung mit Andersen eher unangenehm gewesen war. Womöglich würde sie ihr ganzes Leben lang das vage Unbehagen nicht loswerden, das sie seit der Grundschulzeit in Gegenwart ihrer Lehrer gespürt hatte. Seit jenem Moment kurz nach ihrer Einschulung, als ihre Klassenlehrerin Frau Bück sie lange gemustert und dann mit ihrer klaren, hohen Stimme gesagt hatte: »Sieh mich nicht so frech an! Das werde ich dir noch abgewöhnen.«
Noch heute sah Nora Frau Bücks wasserblaue Augen vor sich, in die sie erschrocken gestarrt hatte. Damals hatte sie nicht begriffen, dass es klüger gewesen wäre, das zu tun, was fast alle anderen Kinder in dieser Situation taten: den Blick zu senken. Und als sie es viel später verstanden hatte, hatte sie es nicht über sich gebracht.
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