Verstohlene Blicke - Erotischer Roman
keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie war eigentlich schon zu spät dran, wenn sie sich vor ihrem Referat noch ein paar Minuten konzentrieren wollte.
16. Mai 1996
Seit Wochen habe ich keinen Tagebucheintrag gemacht. Zu viel Arbeit, zu wenig Ruhe, vielleicht auch zu viele Gefühle, für die es keine Worte gab. Es ist höchste Zeit, wieder klar zu denken und zu fühlen, nicht nur angesichts meiner bevorstehenden Diplomprüfung! Dennoch war die Entscheidung, mich von Leonard zu trennen, eine der schwersten meines Lebens, obwohl sie unumgänglich war.
Die Tatsache, dass ich eine schwache Leistung in meinem Referat in Statistik abgeliefert habe, weil ich am Abend vorher entgegen all meinen Vorsätzen Sex mit ihm hatte, der mich wie immer völlig durcheinanderbrachte, war nur der Auslöser, nicht der Grund für meine Entscheidung. Ich kann und will nicht mit einem Mann zusammen sein, dessen bloße Existenz mir mein Leben entgleiten lässt.
Als ich es ihm sagte, wollte er mich nicht verstehen. Alles, was er erwiderte, war, er könne mich nach all dem, was zwischen uns gewesen sei und noch sein könne, in seinem Herzen nicht loslassen. Heute nicht, morgen nicht, vielleicht niemals. Ein Gedanke, der mir Angst macht, weil auch er sich viel zu sehr von Gefühlen beherrschen lässt.
Schon in der Tür, drehte er sich noch einmal um und sagte etwas, was ich wohl nie vergessen werde (wofür ich ihn gern hassen würde, wenn ich nur könnte): »Wenn wir wirklich nie mehr in diesem Leben zusammenfinden, was ich einfach nicht glauben will und nicht glauben kann, werde ich noch mit 80, wenn ich auf einer Bank sitzen und in den Sonnenuntergang schauen werde, an das gemeinsame Leben denken, das wir nicht hatten.«
Die Rosen, die ich am nächsten und am übernächsten Tag vor meiner Tür fand, habe ich weggeworfen. Sein Atmen und sein Schweigen am Telefon ertrage ich immer nur für wenige Sekunden und lege dann auf Ich habe Angst, dass das niemals aufhört!
1. KAPITEL
Dr. Nora Jacobi starrte ungeduldig auf das Förderband, auf dem nur noch einige wenige Koffer ihre Runden drehten. Die meisten Fluggäste der Maschine aus München hatten bereits mit ihrem Hab und Gut die Ankunftshalle verlassen.
Als ein neues Gepäckstück durch die von Kunststoffstreifen verhängte Öffnung auf das Band glitt, hob Nora aufmerksam den Kopf, um sofort darauf die Luft gleichzeitig durch Mund und Nase auszustoßen und die Fingerspitzen der rechten Hand gegen ihre Nasenwurzel zu pressen, wo es nachdrücklich zu pochen begonnen hatte. Wenn sie nicht innerhalb der nächsten Stunde eine Tasse starken Kaffee bekam, würde sich das Pochen zu einer handfesten Migräne auswachsen. Außerdem musste sie ihre Füße dringend aus den todschicken und sündhaft teuren, aber sehr unbequemen Pumps befreien, die sie sich extra für die Tagung geleistet hatte.
»Gehören Sie auch zu den Fluggästen, deren Koffer aus unerfindlichen Gründen immer als Allerletzter auf dem Band auftaucht?«
Als sie die tiefe Stimme direkt neben sich hörte, zuckte Nora zusammen. Dann erkannte sie den Mann, der aus einer imposanten Höhe von mindestens einen Meter neunzig auf sie heruntersah, und rang sich ein Lächeln ab. »Falls mein Gepäck überhaupt auftaucht. Ich fürchte jedes Mal das Schlimmste, und manchmal tritt es ein.«
»Dann haben wir ja noch etwas gemeinsam.«
Nora verkniff sich die Frage, was genau sie und Professor Cord Andersen außer ihrem Berufsfeld und einer unglücklichen Beziehung zu Koffern gemeinsam haben sollten. Immerhin war er eine international anerkannte Koryphäe auf dem Gebiet der Schizophrenie-Forschung, während sie allenfalls in jenen Kreisen bekannt war, die mit sich mit dem erst vor kurzem ins Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit gerückten Phänomen des Stalkings beschäftigten. Der Kongress in München, auf dem sie einen Vortrag über ihre Erfahrungen mit der Behandlung von Tätern und Opfern gehalten hatte, war ihr erster Auftritt vor bedeutenden Wissenschaftlern gewesen, wenn man den einen oder anderen Aufsatz, den sie in Fachzeitschriften hatte veröffentlichen können, außer Acht ließ.
»Ich habe gar nicht bemerkt, dass Sie auch in der Maschine waren.« Nervös ließ sie ihren Blick hinüber zum Band und wieder zurück zu Andersen huschen.
»Ich bin praktisch in letzter Minute an Bord gegangen. Schade, dass wir uns nicht beim Boarding getroffen haben, ich hätte mich auf dem Flug gern mit Ihnen über Ihren interessanten Vortrag
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