Verstoßen: Thriller (German Edition)
geworden waren, hat sie uns immer erzählt. Die gehörten hinter den Herd.«
»Wann ist sie verschwunden?«
»’83.«
»Und wie war das? Wie muss ich mir das vorstellen?«
Susan sah auf. »Sie war einfach weg. Von einem Tag auf den anderen. Als wir abends ins Bett gingen, war sie noch da, und am nächsten Morgen war sie weg. Kein Zettel, nichts.«
»Und fehlte irgendwas? Klamotten, ihr Pass, Bargeld?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Hatten deine Eltern am Abend vorher Streit?«
»Sie hatten oft Streit. Sie waren beide immer gleich auf 180. Aber das bedeutete nicht viel.«
»Was ist wohl mit ihr geschehen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Sil, wenn ich ehrlich bin … Ich möchte nicht drüber reden. Nicht jetzt. Es bringt sowieso nichts.«
Eindringlich sah er sie an.
»Ich will einfach einen netten Abend verbringen, okay?«, fügte sie hinzu. »Ohne komplizierten Kram. Alte Geschichten wieder aufzuwärmen, liegt mir nicht besonders.«
»Ich glaube, es wäre ganz wichtig, das doch gelegentlich zu tun. Die Sache macht dir mehr zu schaffen, als du zugibst.«
Sie seufzte tief. Ihr Blick glitt langsam von der Holztäfelung zum Fenster und auf die sonnige Straße hinaus, wo sich unablässig ein bunter Touristenstrom an den grauen Fassaden vorbeischob. »Es hat keinen Sinn«, sagte sie leise. »Es ist aus,
vorbei, Vergangenheit. Ich will es einfach vergessen. Eine Weile ist mir das auch gelungen, bis … na ja, bis ich diese Angstträume bekam. Ich hab genug davon, Sil. Ich hab so dermaßen genug davon, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Dass ich’s einfach nicht unter Kontrolle hab. Dass meine eigene Psyche sich diese miesen Spielchen mit mir erlaubt.«
»Ich kann dir vermutlich nicht helfen«, sagte er wahrheitsgemäß, »weil ich selbst anders gestrickt bin. Aber ich bin ziemlich sicher, dass es nicht schaden könnte, darüber zu reden.«
»Über sie zu reden, habe ich verlernt, glaube ich. Nachdem sie ein paar Monate lang nicht wieder aufgetaucht war, hat mein Vater uns gesagt, wir sollten sie vergessen. Sie ist einfach totgeschwiegen worden.«
Er zog die Brauen hoch.
»Meinem Vater widerspricht man nicht so leicht«, erklärte sie. Sie legte Messer und Gabel schräg auf den leeren Teller.
Prompt kam ein Ober, um abzuräumen. Maier bezahlte in bar.
Sie gingen nach draußen. Ohne ein besonderes Ziel vor Augen schlenderten sie durch Montmartre. Das weltberühmte Künstlerviertel bestand aus einem Wirrwarr enger, abschüssiger Straßen mit alten, dicht aneinandergedrängten grauen Häusern, in deren unteren Stockwerken sich Geschäfte befanden. Das Regenwasser lief entlang der hohen Bordsteinkanten durch die Gossen nach unten. Es wimmelte von Touristen. Auf den Bürgersteigen standen unzählige Kisten mit allem möglichen Firlefanz, es wurden Handtücher mit dem Motiv der Mona Lisa von da Vinci verkauft, und es gab Ständer mit Ansichtskarten. In den Schaufenstern lagen Lollis, vernickelte Schlüsselanhänger und Seife in Form des Eiffelturms. Alles fand anscheinend reißenden Absatz.
Eine der kleinen Straßen endete bei der cremefarbenen Sacré-Cœur, zu der eine breite Treppe mit hohen Stufen hinaufführte. Studenten verfütterten Brot an die Vögel.
Susan nahm ihren Rucksack ab und ließ sich auf den Stufen nieder, woraufhin Maier seine Jacke auszog und sich neben sie setzte. Die Ellbogen auf die Stufe in seinem Rücken gestützt, die Sonne im Gesicht, atmete er tief durch. Das Panorama war atemberaubend: Paris und seine gesamte Umgebung lagen einem zu Füßen. An einem klaren Tag wie diesem konnte man kilometerweit sehen. Ein idealer Aussichtspunkt.
Geistesabwesend spielte Susan mit dem Reißverschluss ihres Rucksacks.
Minutenlang sagten beide kein Wort. Sie schauten nur auf die Stadt hinunter, auf das sanfte Glitzern der hohen Bürogebäude mit ihren Glasfassaden und die viel niedrigeren Türme und runden Kuppeln der Gebäude in der Altstadt. Top-Architektur aus aufeinander folgenden Jahrhunderten, von diesem Abstand aus reduziert zu einem melierten Teppich in Beige-und Grautönen, im diffusen Licht der Sonne.
»Ich kam gerade aus der Schule«, sagte sie unvermittelt, während sie weiter in die Ferne starrte. »In unserer Auffahrt stand ein Polizeiwagen. Als ich ins Haus ging und die Beamten im Wintergarten sitzen sah, dachte ich erst, es wäre eingebrochen worden oder so. Aber dann sah ich meinen Vater und meine Schwester, und Sabine sagte: Mama ist weg. Am Morgen hatte ich
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