Verstoßen: Thriller (German Edition)
gar nicht gemerkt, dass sie nicht da war. Es kam öfter vor, dass sie morgens länger schlief. Meine Mutter war ein Abendmensch. Genau wie mein Vater übrigens.« Mit dem Fingernagel pulte sie Dreck aus einer Ritze zwischen den Steinen. »In den nächsten Wochen war die Kripo bei uns Stammgast. Sie stellten immer wieder dieselben Fragen, und wir gaben immer wieder dieselben Antworten. Ich glaube, sie trauten der Sache nicht.«
Er musterte sie von der Seite. »Kein Wunder, würde ich sagen. Bei Vermissten fangen sie immer im engsten Familienkreis an: Ehepartner, Vater und so weiter. Das übliche Verfahren, um das Nächstliegende schon mal auszuschließen.«
Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Aber dann gehst du doch im Grunde davon aus, dass es Mord war, oder?«
Er zog die Brauen zusammen. Ja, davon ging er aus. Eine Mutter von zwei Kindern, die einfach plötzlich verschwindet, ohne irgendetwas mitzunehmen oder eine Nachricht zu hinterlassen? Ungewöhnlich. Kein Wunder, dass die Polizei sich diese Familie Staal etwas gründlicher vorgeknöpft hatte. »Hattest du das Gefühl, dass deine Mutter glücklich war?«
Zerstreut spielte Susan mit dem Reißverschluss ihres Rucksacks. »Ich weiß nicht. Das habe ich mich damals eigentlich nicht gefragt. Sie war einfach da.«
»Aber Streit hatten sie oft, deine Eltern?«
»Das schon, aber auch wieder nicht so schlimm, wie du jetzt vielleicht denkst. Sonst könnte ich mich dran erinnern.«
Zwei verkrüppelte Brieftauben kamen penetrant nahe herangehumpelt, verdrehten die Köpfe und schauten sie aus mit grauen Kerben umrundeten kleinen Augen forschend an.
»Und dein Vater? Wie ist der so?« Ihrem Vater war er nie begegnet. Er lebte in einem Pendlerdorf, keine zehn Kilometer Luftlinie von Susans Wohnung in der Innenstadt von Den Bosch entfernt. Seit Maier Susan kannte, hatte sie ihren Vater nicht ein einziges Mal besucht. »Er kommt schließlich auch nie zu mir«, sagte sie, wenn er sie darauf ansprach. Eigentlich sonderbar. Er selbst hatte seinen Vater nie kennengelernt. Hätte er gewusst, wie dieser hieß und wo er wohnte, er hätte ihn zweifellos auch besucht.
Es sei denn, der Typ wäre ein Arschloch.
»Mein Vater ist Bildhauer«, sagte sie. Ihr Gesicht verdüsterte sich.
»Schöner Beruf.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn du ihn mal bei der Arbeit gesehen hättest, würdest du das nicht sagen. Er hat sein Atelier hinter unserem Haus, so eine grün gestrichene Holzscheune mit
weißen Fensterrahmen und hoher Decke. Als Kind habe ich ihm manchmal bei der Arbeit zugesehen. Von der Tür aus, ich bin nie hineingegangen. Wenn er arbeitete, herrschte immer eine ganz unheimliche Atmosphäre. Er behaute seine Steine nicht aus Liebe, sondern aus Wut. Als ob er sie zerschlagen wollte.«
Maier musterte sie von der Seite. Ein Windstoß fuhr ihr ins Haar, wobei sich ein Büschel aus dem Pferdeschwanz löste und ihr in die Stirn wehte.
»Und doch kam immer was Schönes dabei heraus«, fuhr sie fort. »Er steckte viel von sich selbst in seine Arbeit. Bei jedem seiner Steine war das zu spüren. Deshalb war er auch immer so nervös, wenn die Auftraggeber kamen. Die standen dann mit Schlips und Anzug im Atelier herum, um seine Kunst zu begutachten und sich interessant zu machen. Er fand das furchtbar, weil diese Leute seines Erachtens alle nicht in der Lage waren, den Wert seiner Arbeit zu erkennen.«
»Was waren das denn für Auftraggeber?«
»Meistens Leute vom Staat. Beamte, die ein bestimmtes Budget für Kunst hatten und sich eigentlich gar nicht dafür interessierten. Aber dann mit irgendeinem pseudo-künstlerischen Geschwätz ankamen, du weißt schon. Ich erinnere mich noch, dass einmal ein Kunde eine Plastik für die Eingangshalle einer Firma haben wollte. Mein Vater hatte lange daran gearbeitet, viel länger als normalerweise. Leute, die ihr eigenes Geld ausgeben, sind viel kritischer, hatte er gemeint. Es war eine Art Frauenfigur geworden, etwas Abstraktes. Die Nacht davor hatte er durchgearbeitet, damit bis auf das letzte i-Tüpfelchen wirklich alles stimmte. Am Morgen war eigentlich kaum ein Unterschied zu sehen, aber er achtete immer sehr genau auf Details, die außer ihm niemand sah. Als mein Vater dem Kunden das Ergebnis zeigte, fing der als Erstes vom Preis an. Der sei doch im Grunde ziemlich hoch für einen Steinbrocken. Es war scherzhaft gemeint, das war ganz klar. Aber den Blick meines
Vaters werde ich nie vergessen. Er nahm einen Fäustel, holte aus und schlug
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