Versunkene Gräber - Roman
Kleinstadt zur Welt und sprach Platt vom Feinsten. Meine Eltern wollten mir die bestmögliche Ausbildung ermöglichen und schickten mich nach England, was ich aber wegen der dort herrschenden Witterung nur ein Jahr aushielt. Danach kam ich in die Schweiz. Und von dort nach Italien. Es ist nicht wichtig, wo man herkommt. Es ist nur wichtig, wohin man will.«
»Die Zeitungen schreiben von Ihnen als italienische principessa .«
»Eine gewisse Art von Zeitungen, ja. Mal baronessa , mal principessa , tatsächlich bin ich eine Gräfin. Eigentlich darf ich den Titel nach meiner Heirat mit John nicht weiterführen. Verraten Sie mich bitte nicht.« Die holsteinische contessa lächelte mich verschwörerisch an. »Ich achte sehr auf mein Privatleben. Es gibt keine Skandale, keine dunklen Flecken auf meiner Weste. Ich bin nicht interessant. Ich verdiene mir sogar meinen eigenen Lebensunterhalt. Wie langweilig.«
»Wie langweilig«, wiederholte ich lächelnd.
»Warum wurde dieser Mann festgenommen?«
»Ihm wird der Mord an Horst Schwerdtfeger vorgeworfen.«
»Ein Mord? Wie furchtbar! An einem Horst …?«
»Schwerdtfeger. Sagt Ihnen der Name nichts?«
»Sollte er mir etwas sagen?«
Der Kellner brachte einen neuen Brotkorb. Sie nahm eine Scheibe heraus und knabberte possierlich daran herum.
»Er war der uneheliche Sohn Ihres Schwiegervaters. Johns Halbbruder.«
Sie legte das Brot ab. Runzelte die hübsche Stirn. »John hat einen Bruder?«, fragte sie ungläubig.
»Hat er Ihnen nie etwas davon erzählt?«
Sie schüttelte ratlos den Kopf. »Nein. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern. Vielleicht hat er es auch getan. Ich weiß es nicht. Mein Gott. Sein Bruder ist tot? Ermordet? Weiß mein Mann davon?«
Ich vermutete, dass solche Ereignisse selbst bei den Camerers nicht unerwähnt blieben, deshalb wunderte ich mich über ihre Reaktion.
»Ermordet, auf dem Friedhof von Janekpolana. Auf der Suche nach …« Ich brach ab und hoffte, sie würde meinen Satz vervollständigen. Das tat sie aber nicht.
»Das ist ja schrecklich. Unfassbar. Woher hat er davon gewusst?«
Wovon ?, hätte ich am liebsten gefragt. Stattdessen zuckte ich nur vielsagend mit den Schultern.
»Jemand muss geplaudert haben«, spekulierte ich.
»Das kann nicht sein. Ich lege für uns alle die Hand ins Feuer. Niemand hat auch nur ein einziges Wort darüber verloren.«
Worüber? Eines wenigstens war klar: Es gab etwas, wonach alle aus diesem Clan, allen voran Sinter, suchten. Etwas, das so wertvoll – oder so gefährlich – war, dass diese Suche mindestens einen Menschen das Leben gekostet hatte. Ich versuchte, mit dem fortzufahren, was ich mir bis jetzt zusammenreimen konnte.
»Trotzdem scheint Horst Schwerdtfeger gewusst zu haben, wonach er Ausschau halten sollte. Ziemlich genau sogar. Er hat es nur nicht gefunden.«
»Wie kann er davon erfahren haben?«
Das, liebes Kind, möchte ich von dir wissen.
»Vielleicht durch seinen Vater?«, half ich ihr auf die Sprünge.
»Helmfried? Helmfried … ja. Das ist möglich. Wir haben ja erst nach seinem Tod davon erfahren. Und immer geglaubt, wir wären die Einzigen. Sinter hat uns das hoch und heilig versprochen. Aber …« Der Zweifel kroch in ihre Stimme.
Ab jetzt musste ich vorsichtig sein. Sie hatte etwas bemerkt. Wahrscheinlich, dass ich nicht halb so viel wusste, wie ich sollte.
»Wer weiß noch davon?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Warum wollten Sie mich sprechen?«
»Um Sie über den neusten Stand auf dem Laufenden zu halten.«
Sie presste die Lippen aufeinander und starrte beinahe verzweifelt auf ihr Brot. »Irgendetwas stimmt da nicht«, sagte sie. Als sie aufsah, hatte sich ihr Gesichtsausdruck verändert. Er war hart und entschlossen.
»Ich muss mit John reden«, sagte sie. »Wir sind davon ausgegangen, dass wir den exklusiven Zugriff haben. Aber das war falsch. Sie hat uns belogen.«
»Wer?«
Ein Schatten fiel auf unseren Tisch. Nicky sah hoch und nickte dem Mann zu, der sich, ohne zu fragen, zu uns setzte.
»Krystyna Nowak«, sagte John.
35
Viel später, als Zuzanna das Protokoll über jenen Abend im Haus der Nowaks schrieb und nach Worten suchte, die das Geschehene nüchtern beschreiben könnten, stellte sie fest, dass es ihr nicht gelang. Wie sollte man aus der Sicht von heute einen Vorgang beurteilen, der sich vor siebzig Jahren in den entsetzlichen Wirren des Kriegsendes und der Repatriierung ereignet hatte? Aus wessen Sicht? Verständnis für den einen wäre Verrat
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