Versunkene Gräber - Roman
gekommen. Im Tageslicht sah alles anders aus. Klarer, unbarmherziger. Die Nacht war ein Weichzeichner. Wir waren auf der Flucht. Ich hatte keine Pläne gemacht. Mein einziger Wunsch war, Marie-Luise aus der Schusslinie einer überambitionierten Anwältin und eines Polizeiapparates zu bringen, der, einmal angelaufen, kaum noch zu stoppen war. Nun saßen wir am Ufer eines dunklen Flusses, über den keine Brücke führte, und wussten nicht mehr weiter. Nicht schlimm. Aber spätestens nach Sonnenaufgang katastrophal.
»Ich hab niemanden umgebracht«, sagte sie leise. »Das kann ich gar nicht. Und Jacek … Jacek kann Eisen biegen und einen Wagen ohne fremde Hilfe aufbocken. Vielleicht tötet er auch jemanden, wenn er ihn in Rage gebracht hat. Aber doch nicht wegen Geld. Wie viel denn eigentlich?«
»Dreißigtausend. Sie sind von einem Horst Schwerdtfeger aus Hamburg.«
»Schwerdtfeger … nie gehört …«
Sie wollte so gerne überzeugt sein. Hundertprozentig. Aber es gelang ihr nicht. Ich spürte, dass sie mehr erlebt hatte, als sie mir weismachen wollte.
»Was ist passiert? Erzähl es mir, ganz genau.«
»Ich hatte drei Kisten im Wagen. Apropos: Wo ist der Volvo?«
»Keine Ahnung.«
»Schallplatten, seinen Röhrenreceiver, ein paar Klamotten. Dinge, an denen er gehangen hat. Vor einem Jahr ist er weg. Er wollte nach Hause, hat er gesagt. Ich wusste gar nicht, dass Jacek ein Zuhause hat.«
»Janekpolana?«
Überrascht sah sie mich an. »Ja. Kennst du das Dorf?«
»Nein. Aber dort ist es passiert. Dort auf dem Friedhof ist Schwerdtfeger erschlagen worden.«
»Auf dem Friedhof … Ein unheimlicher Ort. Ganz verlassen, seit so langer Zeit. Die Gräber versinken in der Erde, die Kreuze sind schief, die Steine geborsten. Was er da wohl wollte?« Sie rieb sich nervös den rechten Ellenbogen. Wahrscheinlich gab es keine Stelle an ihrem Körper, die ihr nicht wehtat. »Da ist es passiert?«
»Ja. Sagt Vaasenburg. Aber er weiß auch nur, was die polnischen Behörden ihm mitgeteilt haben. Er muss dich festnehmen, das ist dir sicher klar.«
»Hältst du mich eigentlich für verrückt?«
»Definitiv.«
»Ich meine so verrückt, dass ich wirres Zeug rede?«
»Ständig. Paulina sagte, du hättest Geister gesehen. Was haben sie dir in diesem Krankenhaus gegeben?«
»Sei bitte ein Mal ernst. Wenn ich dir sage, ich hätte wirklich einen Geist gesehen. Was würdest du tun?«
»Mir das Gleiche verschreiben lassen wie dir.«
»Du bist … bescheuert.«
Sie sackte enttäuscht in sich zusammen. Grub die Zehen in den weichen Ufersand. Ich tat weiterhin so, als würde ich sie nicht ernst nehmen. Sollte sie sich ärgern, sollte sie mich verfluchen wie ihre Traumgespinste von versinkenden Friedhöfen. Sie musste endlich in der Realität ankommen. Bis jetzt hörte sie sich an, als hätte sie in den Wäldern die falschen Pilze gesammelt und mit einem Omelett verspeist.
»Okay. Was genau hast du gesehen?«
»Blödsinn. Nichts. Hab geträumt, wahrscheinlich.«
»Was ist vorher passiert? Bevor du geträumt hast?«
Sie zuckte mit den Schultern, zog die Knie an, schlang die Arme darum, zitterte wieder. Ich wusste nicht, was mit ihr los war. Entweder hatte sie ein Trauma, größer als der Lake Michigan, oder es waren die Medikamente oder pure Erschöpfung.
»Jacek und ich haben gestritten. Er wusste, wie es mir finanziell geht. Er schuldet mir für ein Jahr die Miete und hat nur die Schultern gezuckt. Es hat ihn nicht interessiert. Nie interessiert irgendjemanden, wie es mir geht und wie ich zurechtkomme.«
Ich versuchte ihrem anklagenden Blick nicht auszuweichen. »Ein Wort, Marie-Luise.«
»Worte, ja, von denen habe ich genug. Vielen Dank, ich brauche Geld.«
»Warum hast du dich nie gemeldet, wenn es dir so schlecht geht?«
»Macht es dir Spaß?«
»Was?«, fragte ich verwirrt.
»Mich fertigzumachen?«
»Ich will, dass du wieder auf die Beine kommst. Können wir uns darauf einigen und an diesem Punkt einen Strich drunter machen?«
Sie beugte den Kopf auf die Knie, saß eine Weile stumm da, schaukelte sacht vor und zurück. Ein verirrtes, verängstigtes Kind im Wald. Schließlich redete sie weiter.
»Endlich ging er mal an sein Telefon. Da war sowieso alles zu spät. Er hat mir vorgeschlagen, seine Sachen auf dem Flohmarkt zu verkaufen. Ich weiß doch, wie sehr er daran hängt. Bevor der Gerichtsvollzieher kam, habe ich alles in den Volvo gepackt und bin losgefahren. Ich war auch neugierig, was Jacek sich unter
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