Versunkene Gräber - Roman
Helmfried Hagen. An vier Menschen, die Geschwister waren und nichts miteinander zu tun hatten, weil ihre Mutter das verhindert hatte.
An Horst, der sich keine Schokolade gekauft hatte, sondern einen Traum erfüllen wollte. Und der dafür mit seinem Leben bezahlt hatte.
16
Ein ungestümer Wind riss die Wolkendecke auf. Dahinter zeigte ein strahlend blauer Himmel, zu was er in der Lage wäre, wenn es diese ständigen Tiefdruckgebiete nicht gäbe. Immer wieder blitzte die Sonne herab und überraschte in diesen kurzen Minuten mit ihrer Wärme. Als ich das Auto abschloss, mein Gesicht für einen Moment nach oben hob und die Augen schloss, fühlte ich die Verheißung eines Sommertages auf der Haut.
Nach einer unruhigen, viel zu kurzen Nacht war ich verspätet aufgestanden. Für heute hatte ich mir vorgenommen, Marie-Luise in Janekpolana zu besuchen, ihr ein Handy dazulassen, Sinter mit irgendeiner Lüge, die ich mir noch zurechtlegen musste, zu einem Treffen zu zwingen, die Camerers wenigstens dazu zu bringen, Horsts Beerdigungskosten zu übernehmen, und schließlich auch Helmfried, den alten Hagen, nicht ganz aus den Augen zu verlieren. Für einen Anwalt ohne Mandat ein ganz schönes Programm.
Das Haus Emeritia war eine herrschaftliche Villa, von der verglaste Gänge zu weiteren, wesentlich moderneren Gebäuden abgingen. Im Haupthaus selbst waren der Empfang, die Bibliothek, der Speise- und der Theatersaal sowie weitere Gemeinschaftsräume untergebracht. Die eigentlichen Zimmer der Bewohner befanden sich in den Dependancen, die Usambara, Clemantia, Lilia, Hortensia oder, wahrscheinlich für die Herren, Zeder und Teak hießen. Den Weg zum Eingangsportal säumten pummelige Engel und füllhornschwenkende Fortunen, umgeben von der verschwenderischen Blütenpracht üppiger Rank- und Zierpflanzen. Es duftete nach Rosen, Tau und feuchter Erde. Auf dem gepflegten englischen Rasen stand ein Holzpavillon. Es war klar, dass der Eindruck vermittelt werden sollte, es ginge mit dem hochherrschaftlichen Ambiente auch drinnen so weiter.
Doch der Blick durch die Glastüren in die Gänge zu den Nebengebäuden offenbarte, dass es von da an Schluss war mit Hirschgeweih, Wandteppichen und Bronzeleuchtern. Schmucklos, praktisch, modern, abwaschbar, allenfalls ein Gummibaum hier und dort. Ich wollte gerade die Tür öffnen und aus reiner Neugier den rechts liegenden Zugang zum Haus Usambara betreten, als eine Dame die breite, geschwungene Treppe hinunterkam und rief: »Wo wollen Sie denn hin?«
»Zu Herrn Hagen«, sagte ich und bemühte mich um mein vertrauenerweckendstes Lächeln.
Die Frau erreichte die Halle und kam auf mich zu. Sie streckte mir die Hand entgegen. »Carola Wittich, ich bin die Leiterin vom Dienst. Sie meinen Helmfried Hagen?«
»Ja.« Ich bedauerte, dass ich nicht an ein Usambaraveilchen gedacht hatte. »Mein Name ist Joachim Vernau. Meine Mutter und Herr Hagen sind Schulfreunde. Und nun, da sie etwas gebrechlich wird, wollte ich Herrn Hagen besuchen und mir dabei Ihr Haus ansehen. Ich könnte mir vorstellen, dass die beiden sich sehr freuen würden, demnächst Nachbarn zu sein.«
Frau Wittich war eine Frau, der man beim Einstellungsgespräch gesagt hatte, sie solle elegant, aber keinesfalls übertrieben auftreten. Sie musste Anfang vierzig sein, nicht gerade hübsch, aber angenehm anzusehen, mit offenem, aufmerksamem Blick und einem netten Lächeln. Ihre dicken, fast drahtigen Haare waren mittelbraun und von ersten grauen Strähnchen durchzogen. Entweder hatte sie Naturlocken, oder sie schaffte es, sich jeden Morgen eine perfekte Wasserwelle zu legen, die entfernt an einen Pudel erinnerte. Sie wirkte üppig, ohne dick zu sein, trug ein figurbetontes sommerliches Leinenkostüm, das weder aufdringlich noch bieder wirkte, und gegen die Frühkälte einen hellblauen Pashminaschal. Sie duftete frisch nach Maiglöckchen und Zitrone.
Ihr nettes Lächeln verschwand und machte einer betrübten Miene Platz. »Es tut mir sehr leid, aber Herr Hagen weilt nicht mehr unter uns.«
»Ist er umgezogen?«
»Nein.« Sie sah sich um. Durch den Glasgang rechts schlich eine uralte, gebeugte Frau mit Rollator langsam auf das Haupthaus zu. Der Gang zur Linken war leer. »Er ist vor kurzem verstorben.«
»Oh. Das tut mir aber leid. Meine Mutter wird es schwer treffen. Sie hat immer so von ihm geschwärmt. Der Helmfried mit den kurzen Hosen, so hat sie ihn genannt.«
Ihr Lächeln kam wieder. »Sie kannte ihn aus Grünberg?«
»Aus …
Weitere Kostenlose Bücher