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Versunkene Gräber - Roman

Versunkene Gräber - Roman

Titel: Versunkene Gräber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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äh … ja«, antwortete ich überrascht.
    »Die Weinstadt des Ostens. Wir haben einmal einen Busausflug in die Gegend gemacht. Wunderschön. Herr Hagen stammte aus der Gegend.«
    Ich nickte. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Ich konnte kaum glauben, dass ich so früh an diesem jungfräulichen Tag bereits mein Goldkorn geschürft hatte. Der alte Hagen kam aus Grünberg, heute Zielona Góra. Nicht weit davon entfernt, am Ufer der Odra, lag Janekpolana. Nicht die Camerers, die Hagens wiesen also den Weg nach Polen.
    Frau Wittich bemerkte, dass ich kurz abgelenkt war, und schob es auf die schlechten Neuigkeiten. »Kann ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?«
    Kaffee war immer gut. Es bedeutete: Ich habe ein paar Minuten Zeit für dich, um dir all das zu erzählen, was dich brennend interessiert. Vorausgesetzt, du fragst mich so geschickt aus, dass ich keine Lunte rieche. Ich nahm das Angebot dankend an und folgte Frau Wittich durch die Halle bis zu einer dunkel glänzenden Holztür neben dem Treppenaufgang.
    Das Büro war hell gestrichen, mit zarten, fast durchsichtigen Gardinen vor den Fenstern. Der Schreibtisch, ein monströses Gründerzeitstück, stand mitten im Raum. Bis auf eine Lampe und das Telefon war er leer. Dahinter entdeckte ich einige niedrige, modernere Regale. Davor standen zwei Stühle. Frau Wittich entschied, dass dies wohl kein offizielles Gespräch mit eventuellem Vertragsabschluss sei – oder sie machte das immer so, um das anfängliche Fremdeln zu brechen –, und bat mich, auf der dominanten, seniorengerechten Sitzgruppe rechter Hand Platz zu nehmen. An der Wand hingen Kunstdrucke, die entzückende Mädchen mit Biedermeierhütchen in üppig blühenden Gärten zeigten oder einfach nur bunte Blumensträuße. Auf dem Couchtisch lagen Prospekte. Während Frau Wittich ans Telefon ging und Kaffee bestellte, blätterte ich sie kurz durch. Seniorenstifte, Pflegeheime.
    Frau Wittich legte auf. »Wir bieten ein breites Betreuungsspektrum. Angefangen von Seniorenwohngemeinschaften bis hin zur First-Class-Intensivpflege. Wir wollen zudem auch einige Hospize gründen. Der Bedarf ist hoch.«
    Ich legte die Prospekte zurück. »Wer ist wir?«
    »Die Emeritia Betriebsgesellschaft GmbH. Wir überschreiten deutlich die gesetzlich normierten Leistungsstandards.«
    »Auch bei den Preisen?«
    »Natürlich. Pflege ist harte Arbeit. Sie muss bezahlt werden. Dazu kommen der überproportionale Personalschlüssel und der Zeitaufwand, den wir für unsere Gäste einkalkulieren. Wir sind, nach Hotelmaßstäben gerechnet, in der Vier- bis Fünfsternekategorie. Werfen Sie einem Luxushotel vor, dass es andere Preise nimmt als eine Pension?«
    »Nein. Ich werfe niemandem etwas vor.«
    »Wissen Sie, ich war zwölf Jahre alt, als meine Großmutter gestorben ist. Sie litt an Demenz. Es gab keine Möglichkeit für meine Eltern, sich um sie zu kümmern, also kam sie in ein Altenheim. So hieß das damals. Von einem Tag auf den anderen habe ich sie verloren.« Sie setzte sich mir gegenüber in einen Sessel.
    »Warum?«
    »Ich fürchtete mich, dieses Haus zu betreten. Es roch dort nach Urin. Die alten Leute lagen in Eisenbetten. Sie durften nichts von ihrer Habe behalten. Ob jemand aß oder trank, ob er sich wundgelegen oder in die Hose gemacht hatte, war egal. Meine Großmutter verlor in wenigen Wochen rapide an Gewicht. Sie, die immer so adrett gewesen war und nach Lavendelpuder geduftet hatte, stank nun nach altem Schweiß und Exkrementen. Das war nicht mehr meine Omi. Das war ein Mensch, der bei lebendigem Leib …« Sie brach ab.
    Ich wusste nicht, ob sie diese Geschichte jedem erzählte, der zweifelnd dieses Haus betrat. Wenn es so war, dann machte sie es richtig gut. Wenn nicht, dann saß jemand vor mir, der tatsächlich einen Grund hatte, ein Luxusheim für den Lebensabend zu leiten.
    »Ich habe sie nur einmal besucht und danach nie wieder. Sie ist nach einem halben Jahr gestorben. Nicht an ihrer Krankheit, sondern an der gesellschaftlich tolerierten unterlassenen Hilfeleistung. Heute ist es anders. Es gibt Richtlinien und Kontrollen und wirklich sehr gute Heime. Ich kann Ihnen gerne eine Liste geben und Empfehlungen aussprechen, wenn Sie etwas Erschwinglicheres für Ihre Mutter suchen. Auch der Medizinische Dienst kann Ihnen weiterhelfen. Aber die Ängste bleiben tief verwurzelt. Ins Heim … das ist für viele immer noch eine Horrorvision. Aber wir werden immer älter, der so oft beschworene

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