Versunkene Gräber - Roman
lang sowieso alles erfahren, und das nicht unbedingt aus berufenem Munde. Sie ist ein extrem neugieriger Mensch. Vielleicht könnten Sie mir doch noch etwas über Helmfried Hagens Tod erzählen?«
»So schnell geht das nicht, Herr Vernau.« Sie hatte ein erstaunliches Namensgedächtnis. »Zunächst müssten wir Ihre Frau Mutter auf die Warteliste setzen.«
»Zunächst sollte sie sich die Einrichtung einmal ansehen.« Mir kam eine Idee, für die meine Mutter wahrscheinlich zu Methoden der Züchtigung greifen würde, die sie bisher noch nie angewendet hatte. »Gibt es denn die Möglichkeit, hier Probe zu wohnen?«
»Aber selbstverständlich. Wir haben Gästeapartments, die auch den Freunden und Verwandten unserer Bewohner zur Verfügung stehen. Die Nacht kostet einhundertundneun Euro, inklusive der Teilnahme an all unseren Mahlzeiten.«
»Pro Person?«, fragte ich. Das konnte eine teure Recherche werden.
»Pro Apartment. Es handelt sich um unsere Musterwohnungen. Im Moment sind sie nicht belegt. Wir bieten ein und zwei Zimmer an, dazu die voll ausgestatteten Apartments mit modernsten Einbauküchen.«
Ich trank meinen Kaffee und rechnete mich um Kopf und Kragen. »Ich muss meiner Mutter erst einmal die Nachricht vom Tod ihres Schulfreundes schonend beibringen. Wer weiß, vielleicht möchte sie ja hierherkommen, um von ihm Abschied zu nehmen?«
Frau Wittich sah mich an. Sie verstand mich nicht.
»Die beiden haben viele Erinnerungen geteilt. Nicht nur an die Schule.« Ich begann bereits, das Briefing meiner Mutter vorzubereiten. Sandkastenspiele. Gemeinsame Kommunion. Ein erster scheuer Kuss hinter einer Wildrosenhecke, ganz genau so einer, wie sie ein mäßig begabter Künstler auf das Aquarell hinter Frau Wittichs Kopf gebannt hatte. Schwimmen in der Oder, Kirschen aus Nachbars Garten klauen, ein junges Kätzchen im Heuschober entdecken und ähnlicher austauschbarer Kinderkram.
»Verstehe. Mit diesen Dingen haben wir ebenfalls Erfahrung. Es kommt vieles zurück im Alter. Nicht nur die schönen Erinnerungen. Wenn Ihre Frau Mutter aus Schlesien stammt, wird sie die Folgen von Flucht und Vertreibung schmerzhaft gespürt haben.«
Okay. Dann auch das noch.
»Ja.«
»Wir arbeiten mit hervorragenden Psychologen zusammen.«
Ich stand auf und reichte ihr die Hand. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht.«
Sie erhob sich ebenfalls. »Das zu glauben ist das Vorrecht der nachfolgenden Generationen. Und unser großer Irrtum.«
17
»Krystyna Nowak« stand auf ihrem Namensschild. Sie ordnete Prospekte in einem Ständer neben der Treppe. Dort befand sich auch ein Empfangssekretär mit zwei Schwanenhalsstühlen. Als sie mich aus Frau Wittichs Büro kommen sah, unterbrach sie ihre Arbeit.
Ihre Chefin verabschiedete sich von mir. »Bitte richten Sie Ihrer Frau Mutter unbekannterweise mein Beileid aus. Wir würden uns sehr freuen, wenn sie uns bald einmal besuchen würde, um sich einen Eindruck von unserer Einrichtung zu machen.«
»Das wird sie. Sehr bald wahrscheinlich.«
»Sie ist uns jederzeit willkommen. Wie gesagt, im Moment liegen keine Reservierungen für die Gästeapartments vor.«
Krystyna legte die letzten Prospekte auf dem Schreibtisch ab. »Wenn Sie mir bitte folgen würden?«
Sie lief schnell, aber nicht hastig. Wir verließen das alte, schöne Haus durch den linken Glasgang. Der Usambara-Neubau war gar nicht so schlimm, wie er von außen ausgesehen hatte. Hell, groß und luftig, mit einem Atrium, das wohl auch als Gesellschaftsraum genutzt wurde. Die Wände waren cremeweiß gestrichen, hier und dort mit goldfarbenen Akzenten. Genauso sah der zweite Bau aus, Haus Clemantia, das man ebenfalls durch einen Glasgang erreichte und in dem sage und schreibe vier Aufzüge für drei Etagen eingebaut waren. Krystyna rief einen, und alle drei Türen öffneten sich gleichzeitig. Sie ließ mich vortreten.
Kaum standen wir in der Kabine, holte ich einen Fünfzigeuroschein aus der Tasche und reichte ihn ihr. Überrascht sah sie mich an.
»Ich möchte den Nachlass von Helmfried Hagen sehen.«
Abwehrend hob sie die Hände. »Oh, das, also … das geht nicht. Das kann ich nicht.«
Ich steckte ihr den Schein in die Kitteltasche. Nicht, dass mir dieses Gehabe gefiel. Ich musste mein Geld zu hart verdienen. Aber ich hoffte, dass es Krystyna Nowak ebenso ging.
»Vielleicht findet sich ja noch ein Weg, oder?«
»Nein. Nicht … Nicht jetzt. Das geht nicht. Wirklich nicht.«
Ich nahm das nicht jetzt als klares Ja.
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