Versunkene Gräber - Roman
Familienzusammenhalt existiert doch kaum noch. Haben Sie Kinder?«
»Nein.«
»Wer wird sich um Sie kümmern, wenn Sie es einmal nicht mehr selbst können?«
»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.«
»Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf: Schieben Sie es nicht zu lange auf. Wir haben im Moment eine Wartezeit von zwei bis drei Jahren auf ein Apartment, zwei Jahre auf ein Zimmer. Das Alter und den Ruhestand sollte man genauso planen wie seine berufliche Karriere. Denken Sie darüber nach.«
»Das werde ich, wenn es an der Zeit ist.«
»Vorher«, sagte sie mit Nachdruck. »Tun Sie das vorher. Ich habe mein Apartment bereits angezahlt. In zwanzig Jahren gehört mir ein Teil dieser Einrichtung, und die monatliche Belastung ist bei weitem nicht so hoch. Vorsorge ist die beste Sorge.«
Sie nahm einen Prospekt und reichte ihn mir. »Werfen Sie wenigstens einen Blick darauf. Wir werden alle nicht jünger.«
Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, in eine Altersresidenz zu ziehen. Viel eher in eine späte Hippie-Kommune in den Weiten Brandenburgs.
»Wie alt ist Ihre Mutter?«
»Ähm … zweiundsiebzig, glaube ich.«
Sie lächelte verstehend. »Und ihr Allgemeinzustand?«
»Gut«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Sie liebt Musik und moderne Kunst, ist immer noch sehr kreativ.«
»Ach, da wäre sie bei uns genau richtig. Wir haben ein sehr breit gefächertes Kulturangebot. Kammermusik, Klavierkonzerte, Gesangsdarbietungen, Aquarellmalkurse, gemeinsame Museumsbesuche …«
Schneidbrenner, Flammenwerfer, Molotow-Cocktail-Workshops …
»Was kostet das?«, fragte ich.
Frau Wittich setzte zu einer weit ausholenden Beschreibung all der Vorteile und inkludierten Leistungen an, die dieses und die anderen Häuser zu bieten hatten. Als sie beim dreigängigen Mittagsmenü mit mehreren Auswahlkomponenten im kultivierten Restaurant angekommen war, klopfte es leise.
»Herein?«
Eine junge Frau in einem etwas zu weiten Baumwollkleid, von fahlem Blond und blasser Gesichtsfarbe, kam mit einem Tablett ins Zimmer. Sie trug keinen Trenchcoat. Sie trug einen gestärkten blassvioletten Baumwollkittel und Gesundheitsschuhe.
»Der Kaffee?«, fragte sie.
Die Frau stellte das Tablett auf dem Couchtisch ab und arrangierte Besteck, Geschirr und einen Teller mit Konfiseriekeksen. Sie hatte dünne, aber muskulöse Arme und lächelte mich flüchtig an. Es war die Frau, die den alten Hagen auf die Hochzeit seines Sohnes begleitet hatte. Das zweite Goldkorn. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Als sie die Kaffeekanne anheben wollte, winkte Frau Wittich ab.
»Das mache ich. Danke, Krystyna. Herr Vernau möchte sich im Anschluss eventuell unser Musterapartment ansehen. Hätten Sie einen Moment Zeit und könnten es ihm zeigen?«
»Selbstverständlich. Bitte kommen Sie an den Empfang, ich erwarte Sie dort.«
Krystyna schlüpfte hinaus.
»Eine Polin?«
»Ja, aber mit exzellenten Deutschkenntnissen. Darauf bestehen wir.« Sie schenkte den Kaffee ein. »Wo waren wir stehengeblieben?«
»Bei Herrn Hagen«, sagte ich. »Könnten Sie mir etwas über seinen Tod erzählen? Meine Mutter wird es wissen wollen.«
»Das ist verständlich. Aber leider darf ich Ihnen über Herrn Hagens Gesundheitszustand keine Auskunft geben. Sagen wir mal so: Er war krank.«
»Also ist er sanft entschlafen?«
Frau Wittich bot mir Milch und Zucker an. »Ja.«
»Hatte er denn oft Besuch von seinen Kindern?«
Ich merkte, dass ihr meine Fragen nicht gefielen.
»Bitte verstehen Sie mich. Wer bei uns lebt, hat ein Recht auf Diskretion.«
»Herr Hagen hatte einen Sohn, Horst. Er ist letzte Woche ums Leben gekommen. Ich bin auch hier, weil ich seinem Vater unser Beileid aussprechen und unsere Unterstützung anbieten wollte.«
»Wie schrecklich!« Offenbar hatte sie noch nichts von Horst Schwerdtfegers Schicksal gehört. »So ein eleganter, stattlicher Mann. Er hat doch letztes Jahr erst geheiratet?«
»Das war John«, korrigierte ich sie sanft. »Sein zweiter Sohn.«
»Ja. Ja, natürlich. Da fällt mir ein … Es sind noch einige Dinge von seinem Vater da, die dringend abgeholt werden sollten. Wir bewahren sie gerne eine Weile auf, aber unsere Kapazitäten sind natürlich begrenzt.«
Auf diese Dinge hätte ich sehr gerne ein Auge geworfen. Aber Frau Wittich schien mir nicht die Person zu sein, die sie mir zeigen würde.
»Nun«, begann ich Phase zwei meiner Befragung, »wenn meine Mutter hier einzieht, wird sie über kurz oder
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