Versunkene Gräber - Roman
gelegen und auf mich gewartet hätte. Er war groß, fast zwei Meter. Und er hatte die Stange in der Hand und hieb damit an die Mauer, und er schrie, er schrie! Ich bin los, zu meinem Auto. Jacek hatte den Schlüssel stecken lassen, um Radio zu hören. Das war mein Glück. Ich hab den Wagen gestartet und bin los, keine Ahnung, wohin. Ich war nur noch Panik. Ich bin die Straße runtergerast und hab nicht nach links und rechts gesehen. Da ist es dann passiert. Ich habe eine Kurve nicht gekriegt. Der Volvo muss immer noch irgendwo halb in der Oder stecken. Ich bin raus, es war bei Cigacice, alles schlief, alles war dunkel. Ich musste weg. Bin zur Straße gerannt, gelaufen, gerannt, gelaufen … Irgendwann kam der Lkw. Und dann bin ich im Krankenhaus von Poznań wieder aufgewacht.«
»Schatten aus dem Grab.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Marie-Luise, ich glaube dir jedes Wort. Aber weißt du, wie sich das anhört?«
»Ja.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Nase. »Ich bin nicht verrückt. Es hat sich genau so zugetragen.«
»Ich glaube dir. Trotzdem hört es sich in meinen Ohren so an, als ob ihr alle in Panik wart. Dein Verfolger hatte vielleicht nur Angst.«
»Nur Angst?«, fragte sie ungläubig.
»Ja. Vielleicht dachte er, du bist der Geist, der aus den Gräbern kommt.«
»Und Schwerdtfeger?«, zischte sie. »Das war ein Irrer da draußen! Er hätte uns alle umgebracht, wenn er uns erwischt hätte!«
Ein Geräusch kam von draußen. Sie zuckte zusammen, löste sich von mir und verbarg sich neben dem Fenster. Ich trat auf die andere Seite und spähte vorsichtig hinaus.
Da sah ich es. Eine Gestalt glitt an der Kapellenmauer vorbei, so schnell, dass ich an eine Sinnestäuschung geglaubt hätte, wenn Marie-Luise nicht ebenfalls vor Schreck scharf eingeatmet hätte.
»Was war das?«
Ich drehte mich zu ihr um. »Du gehst jetzt in dein Zimmer und schließt die Tür ab. Ich schleiche mich runter.«
»Nein!«
»Leise! Das da unten ist nicht der unglückliche Viktor.«
»Wer?«
»Das ist ein Mensch. Einer, der nicht gesehen werden will. Ich wäre dir dankbar, wenn wir ihn in dem Glauben lassen könnten, bis ich ihn gestellt habe.«
»Ruf die Polizei!«
»Was denkst du, wo sich der nächste Revierposten befindet? Und was soll ich ihm auf Deutsch erzählen? Ich könnte Marek aufwecken, aber er würde bloß wieder mit seinen Verfluchten anfangen, und das klingt auch nicht sehr glaubwürdig. Also? Hast du eine bessere Idee?«
»Vielleicht warten, bis er wieder weg ist?«
Wir traten vom Fenster zurück in die Dunkelheit des Zimmers. Ich konnte ihre Angst beinahe mit den Händen greifen. Wie eine schwarze Wolke stand sie im Zimmer und verschattete ihren Verstand.
»Hier ist ein Mann erschlagen worden«, sagte ich leise.
»Eben. Es ist Wahnsinn, was du vorhast.«
»Die Wahrscheinlichkeit, dass der Täter an den Ort des Geschehens zurückkehrt, ist hoch. Vielleicht bekommen wir diese Chance nie wieder.«
»Was denn für eine Chance? Er hat Jacek erwischt, einen Baum von einem Mann! Und Schwerdtfeger ist tot! Willst du der Nächste sein?«
»Willst du ein Leben lang den Falschen im Knast besuchen?«
Sie schwieg.
»Oder bist du jetzt auch von seiner Schuld überzeugt?«
»Natürlich nicht. Wir gehen zusammen.«
»Du bleibst hier. Und wenn ich dich festbinden muss.«
»Dann nimm wenigstens das Brotmesser mit. Es liegt in der Spüle. Wenn du in zehn Minuten nicht da bist, setze ich mich mit aufgeblendeten Scheinwerfern hinters Steuer von deinem Auto und fahre hupend und blinkend über die Gräber. Ich schwör’s. Wo steht es eigentlich?«
Ich schob sie aus der Tür hinüber in ihr Zimmer. »Hinterm Haus.«
Ich wollte nicht, dass jemand einen fremden Wagen mit Berliner Nummernschild bemerkte. Ich beglückwünschte mich zu dieser Entscheidung und gab ihr den Schlüssel, geriet aber auf dem Weg nach unten in Zweifel.
Wer auch immer dort draußen herumgeisterte, er hatte bereits einen Menschen auf dem Gewissen.
Ich weiß drei Dinge über dich. Du hast getötet. Ob aus Angst, Panik oder Berechnung – du wirst es wieder tun. Du bist zurückgekommen, weil du etwas nicht zu Ende gebracht hast. Wenn du der Täter bist, dann ist Jacek unschuldig.
Das Messer war lang und schwer. Es hatte einen Holzgriff und war über die Jahre hinweg gut geschliffen worden. Ich wog es in der Hand. Es gab mir Sicherheit. Ich fragte mich, ob ich bereit war, es zu benutzen, und ob ich überhaupt dazu kommen würde,
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