Versunkene Gräber - Roman
dem ich darauf schließen konnte, dass Viktor, Christoph, der Golem und ich in dieser Nacht nicht die einzigen Anwesenden waren. Der Messergriff schmiegte sich in meine Hand. Zur Krönung, als hätte der Regisseur dieses Stilllebens wirklich nichts ausgelassen, ließ auch noch ein Waldkauz sein klagendes Locken ertönen.
Ein Kratzen. Ein Schürfen. Das leise Klingen von Metall auf Stein. Meine Hand um den Messerschaft verkrampfte sich. Jemand war in der Kapelle. Ich vertraute darauf, dass die geschlossene Tür meine Schritte dämpfte, und schlich weiter. Dabei wäre ich um ein Haar in eine Grube gefallen und fand erst in letzter Sekunde die Balance wieder. Je näher ich kam, desto deutlicher schälten sich die Einzelheiten aus der Dunkelheit. Die Tür war aus schweren, dunklen Balken gefertigt, die in Neunzig-Grad-Winkeln miteinander verkragt waren. Beschläge und Klinke waren aus Eisen.
Ich spähte durch das Schlüsselloch. Lichtreflexe huschten über die Wände der kleinen Kapelle und warfen geisterhafte Schatten. Sie war leer, noch nicht einmal Bänke waren mehr geblieben. Nur am anderen Ende des Raumes stand ein schlichter Altar. Davor hockte eine schwarze Gestalt. In diesem Moment wandte sie den Kopf in meine Richtung. Das Letzte, was ich erkennen konnte, bevor mich ein gleißender Lichtstrahl mitten in die Netzhaut traf, war eine furchterregende Fratze aus einer Fieberphantasie von Edvard Munch: weiße Augenschlitze, platte Nase, dunkles Mundloch. Vor Schreck trat ich einen Schritt zurück, stolperte und ließ das Messer fallen. Es war kein lautes Geräusch, doch in meinen Ohren dröhnte es wie eine Abrissbirne.
Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung sprang die Gestalt auf. Sie trug eine Stirnlampe und hatte so den Vorteil, überall Licht zu haben, wohin sie den Kopf auch wendete. Ich hatte genug gesehen. Ich drehte mich um und rannte zurück zum Tor, hörte, dass hinter mir die Tür aufgerissen wurde und jemand schrie. Nicht schrie. Brüllte. Unverständliche Laute keiner Menschen Zunge. Das gurgelnde Gebrüll ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Und dann, schlagartig, schien es, als ob in gleißendem, irrlichterndem Schein die Geister den Gräbern wie Furien entstiegen.
Schatten wirbelten durcheinander, zogen sich grotesk in die Länge, tanzten über die Fassade. Mein überforderter Verstand brauchte einige kostbare Sekunden, bis ich erkannte, dass die Ursache für diesen Spuk Autoscheinwerfer waren, die jenseits der grünen Mauer aufblendeten.
»Hierher!«, gellte Marie-Luises Ruf zu mir.
Ich rannte weiter, stolperte über einen Zaunrest und fiel der Länge nach hin. Der Schmerz, der durch mein linkes Knie jagte, war mörderisch. Ich wagte nicht zurückzublicken. Ich wollte auch nicht wissen, warum das Monster mich nicht verfolgte, sondern nichts anderes tat, als zu brüllen.
»Mach das Licht aus!«
Wenigstens das begriff sie. Die Scheinwerfer erloschen, und die Schatten verschmolzen wieder mit der Dunkelheit, die nun allerdings noch tiefer und schwärzer erschien. Ich kam auf die Beine und rannte auf das Friedhofstor zu. In letzter Sekunde erinnerte ich mich an den verbogenen Holm, sonst hätte ich mich noch geköpft. Marie-Luise öffnete die Beifahrertür, ich warf mich ins Auto, brüllte »Los!«, und sie gab Gas. Wir schlingerten auf die Straße und rasten durch Janekpolana, als wäre der Leibhaftige hinter uns her.
»Was war los?« Ihre Stimme flatterte vor Angst. »Hast du es gesehen? War es wieder da?«
Mein Knie schmerzte wie Hölle. Hoffentlich war nichts gebrochen. Vorsichtig tastete ich die Stelle ab und beugte das Bein. Es fühlte sich an, als wäre die Kniescheibe in tausend Teile zerschmettert, aber wahrscheinlich war es nicht mehr als eine saftige Prellung.
»Kein E s «, schnaufte ich. »Ein Er .«
»Was hast du gesehen?«
»Einen Mann. Höchstwahrscheinlich einen Mann. Groß, schlank. Er hatte eine Sturmhaube auf.«
Ich holte mein Handy heraus und wählte Zuzannas Nummer. Als ich ihren Anrufbeantworter hörte, unterbrach ich die Verbindung und wählte erneut.
Erst nach dem vierten Mal ging sie ans Telefon. Ihre Stimme klang schlaftrunken und ärgerlich.
»Halo?«
»Vernau am Apparat. Ich habe soeben einen Unbekannten in der Kapelle von Janekpolana überrascht. Sie müssen die Polizei informieren und eine Fahndung auslösen.«
»Was?«
»Ein Mann. In der Kapelle auf dem Friedhof. Mit Maske. Er hat dort etwas gesucht. Im Boden unter dem Altar. Er ist
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