Versunkene Gräber - Roman
dicht.«
Ich sah auf die Uhr. Wenn Zuzanna mit all unseren Friedhofsgeschichten genauso wenig anfangen konnte wie jeder andere vernünftige Mensch, würde sie vielleicht den polnischen Grenzschutz und den Zoll alarmieren. Aber sie konnte nicht wissen, welchen Übergang wir nehmen würden. Küstrin oder Słubice schien wegen der Nähe zu Janekpolana am wahrscheinlichsten. Dann gab es da noch Guben, Forst, Schwedt, Görlitz … Blieb die Frage, ob sie sich genauso lächerlich machen wollte wie wir. Ich vermutete, nein. Also gab es auch keinen Grund, so zu rasen.
»Wenn du den Mund gehalten hättest …«, fing ich an, doch Marie-Luise ließ mich nicht ausreden.
»Oh ja. Entschuldige. Es geht ja nur um fünfzehn Jahre Knast für mich. Aber willkommen im Club. Jetzt sind wir immerhin schon drei, die den Geist in Aktion erlebt haben. Vielleicht werden wir ja noch eine Volksbewegung, und Janekpolana wird zum Wallfahrtsort. Man wird uns verehren und Opfergaben darbringen, weil wir die Verfluchten sehen. Nur, es wird uns nichts nützen, wenn nicht mal Leute wie deine Anwältin einen Funken Interesse an der Wahrheit haben!«
Jetzt ging das wieder los. Marie-Luise funkelte mich wütend an.
»Schau auf die Straße!«
Wir verließen den Ort, sie gab Gas, ich wurde in den Sitz gepresst.
»Wohin willst du eigentlich?«
»Ich nehme die A 2 über Frankfurt Oder.«
»Das ist Wahnsinn. Alle Mautstellen an den Auffahrten sind kameraüberwacht.«
»Die vor der Grenze nicht.«
Das nächste große Schild verwies tatsächlich auf die Autobahn. Wir würden die letzte Auffahrt in wenigen Minuten erreichen.
»Warum nicht Słubice?« Die frühere Dammvorstadt von Frankfurt/Oder erschien mir für eine Flucht wesentlich geeigneter. Tankstellen, Sexshops, Vierundzwanzig-Stunden-Restaurants und Supermärkte, all das würde ablenken. Der Polenmarkt hatte um diese Uhrzeit noch geschlossen. Dennoch waren die Parkplätze dort sicher voll mit Truckern und Reisenden. Dort konnten wir untertauchen.
»Zu viele Leute. Bis wir durch die Stadt auf der anderen Seite sind, vergeht zu viel Zeit. Eine Autobahn kann man nicht so schnell abriegeln.«
Ich glaubte nicht daran. Selbst wenn Zuzanna die Polizei benachrichtigte, blieb es fraglich, ob unseretwegen innerhalb kürzester Zeit sämtliche Grenzposten besetzt werden könnten. Ich vermutete eine ganz andere Taktik: Nun, da sie wusste, dass Marie-Luise bei mir war, genügte es, wenn sie Vaasenburg aus dem Bett warf.
Tatsächlich: Als wir wenig später die hellerleuchtete Zubringerbrücke erreichten, war von Polizei und Grenzschutz keine Spur. Marie-Luise raste über die Oder, und ich sah die blauen Autobahnschilder mit den vertrauten Namen vorbeifliegen. In weniger als einer Stunde wären wir in Berlin.
Ich warf einen letzten Blick in den Rückspiegel. Außer einigen Lkws war niemand unterwegs. Es war halb vier, und irgendwo hinter meinem Rücken würde bald die Sonne aufgehen.
»Wir haben es geschafft«, sagte ich.
Marie-Luise schüttelte den Kopf. »Du vielleicht. Verdammt, wo soll ich denn jetzt hin?«
Ich lehnte mich zurück und rieb mein schmerzendes Knie.
25
Drei Stunden später, gegen sieben Uhr morgens, stand Zuzanna Makowska auf dem Hof der osada Janekpolana und versuchte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Ob die Zigarette dabei half, war fraglich. Sie war übermüdet und gereizt. Sie sehnte sich nach Kraków zurück, in die unbeschwerten Tage ihrer Studentenzeit und die Vorlesungen in Rechtsmedizin. Sie waren für ihr Examen nicht unbedingt notwendig gewesen. Die reine Neugier hatte sie in dieses Seminar getrieben. Professor Jan Raphael war kein attraktiver Mann, und die Fotos von Leichen, die er gleich zu Beginn auf die Leinwand projiziert hatte, waren abstoßend und erschreckend gewesen. Doch dann hatte sie den Klang seiner Stimme gehört. Leise und ruhig, wie kaltes Wasser über Flusskiesel. Er hatte schlanke, schöne Hände. Zuzanna ertappte sich dabei, dass sie mehr auf seine Körpersprache achtete als auf die Worte, die aus seinem Mund kamen. Sie blieb und wurde seine eifrigste Studentin.
Er war Wissenschaftler durch und durch. Am Ende des Semesters bedauerte er, dass sie sich nicht für ein Medizinstudium entschieden hatte.
»Ich will den Lebenden helfen«, hatte sie erwidert.
Sie erinnerte sich daran, wie die Röte ihr ins Gesicht geschossen war, weil der große Raphael sie angesprochen hatte. Da war sie schon längst unsterblich verliebt in ihn, und niemand
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