Versunkene Inseln
bat um eine Wechselband-Übertragung von der Luna-Bibliothek, füllte die zusätzlichen Informationsspeicher der Station mit allen Daten, die mir die Bibliothek über diese Thematik zur Verfügung stellen konnte, und machte mich an die Arbeit.
Durch die Behandlungen wird die Zelldegeneration des betreffenden Körpers zum Stillstand gebracht. Sie bewirken einen Zustand physischer Stasis. Sie funktionieren bei jedem Primaten oberhalb einer bestimmten evolutionären Schwelle. Bestimmte Chemikalien beeinflussen das hormonelle Gleichgewicht bestimmter Drüsen; bestimmte Injektionen verändern die Funktion bestimmter organischer Prozesse; bestimmte Strahlungsvarianten wirken auf bestimmte genetische Veranlagungsbefehle. Soweit jedenfalls die Theorie. Man bombardiere die Körperregion A mit einer Strahlung der Stärke B für die Zeitspanne C in den Abständen D – und irgend etwas in der genetischen Struktur verändert sich, und der Alterungsprozeß hört auf. Wie geschieht das? Warum? Niemand weiß es genau. In Lippencotts Papieren wimmelt es von Hypothesen und bereits widerlegten Theorien, und die Schriftstücke seiner Nachfolger dehnen die Bereiche der Unwissenheit nur noch weiter aus. Die Unsterblichen finden keinen Gefallen an schwierigen und ungelösten Problemen, und als das zweite Jahrhundert nach der Formung zu Ende ging, wurde die Forschung immer mehr vernachlässigt und hörte dann schließlich ganz auf. Es reichte, daß die Behandlungen funktionierten – daß sie so außerordentlich wirkungsvoll zu funktionieren schienen. Vermutlich würden die Unsterblichen die Forschung mit einer für sie völlig uncharakteristischen Hast wieder aufnehmen, wenn es im Jahr tausend zu einem plötzlichen Degenerationsausbruch käme. Doch das Jahr tausend lag noch weit in der Zukunft, selbst für die ältesten Unsterblichen, und ich lebe dann längst nicht mehr, um ihnen mit weiteren Untersuchungen helfen zu können.
Ich kannte die grundlegenden Strukturen der menschlichen Physiologie vor der Behandlung, und die Einzelheiten standen auf Band zur Verfügung. Ich kannte die grundlegenden Strukturen der Nachbehandlungs-Physiologie, und auch hier waren die Einzelheiten verfügbar. Und ich besaß meinen eigenen kleinen Datenschatz aus ganz persönlichen Erfahrungen vor, während und nach den Behandlungen. Ich hätte in der Lage sein sollen, die Gründe meiner Resistenz gegenüber der Immortalität herauszufinden. Hölle und Verdammnis: Die Wissenschaftler und Ärzte auf Terra hätten sie herausfinden müssen. Ihre Untersuchungen und Tests und Analysen waren sicherlich umfangreich und detailliert genug.
Doch die Aufzeichnungen offenbarten keine offensichtliche Anomalie, was meinen Körper betraf. Es waren schon Leute erfolgreich behandelt worden, deren Abweichung von der fiktiven Norm weitaus größer als bei mir gewesen war. Meine Nachbehandlungsdaten zeigten einige leichte Veränderungen, die vielleicht – oder vielleicht auch nicht – auf eine geringfügige Steigerung meiner Lebenserwartung im Vergleich zu der Norm vor der Formung hindeuteten. Es war nicht genau zu bestimmen, welche Auswirkungen diese geringen Veränderungen haben mochten. Und es gab auch keine Erklärung dafür, warum sie entstanden waren und meine Genstruktur nicht das erwartete Immortalitätsmuster aufwies.
Das Ergebnis eines einjährigen intensiven Studiums lief auf folgendes hinaus: Die Antwort ist, daß es keine Antwort gibt; der Grund besteht darin, daß kein Grund existiert. Ich hielt das für völlig unakzeptabel. Ich brauchte mehr Daten, umfangreicheres Wissen, weitere Tests. Ich mußte mich selbst besser verstehen lernen und weitere Untersuchungen durchführen. Die kleinen Medoanalyser, die in der Station zur Verfügung standen, waren dieser Aufgabe ganz und gar nicht gewachsen. Und ich konnte es mir nicht leisten, die empfindlichen Instrumente zu bestellen, die zur Fortsetzung meiner Studien erforderlich waren.
Einen Monat lang versuchte ich vergeblich, die steinerne Wand dieser Sackgasse zu überwinden, dann erinnerte ich mich an Kai-Yus Droge.
Es war mehr als wissenschaftliche Neugier, die mich zu der Entscheidung veranlaßte, wieder auf den Trip zu gehen. Fast vier Jahre an Bord der Sonnenstation hatten mir eine gähnende Langeweile beschert, trotz der Unterhaltungsmöglichkeiten, der Hobbyräume, der endlosen Reihen von Speicherbändern und Lesewürfeln. Und ich fühlte mich einsam. Die einzige Stimme, die ich während dieser Zeit gehört
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