Versunkene Staedte

Herrn nicht verließ?
    Ist sie deine Herrin?
    Bei dem Gedanken fletschte Tool die Zähne.
    Trotzdem hörte er die spöttische Stimme des Mädchens: Warum hast du ständig Angst, obwohl du so stark bist?
    Er hatte keine Angst vor dem Tod. Aber er würde sich nie wieder in eine sinnlose Schlacht stürzen. Das war es, was die Generäle und ihre Kriegsmaschinerie von ihm verlangt hatten. Er war kein Hund mehr. Er hatte zu lange gekämpft und zu viele Verluste erlitten, um noch einmal jemandem solche Macht über sich zu verleihen.
    Fürchtest du dich also?, flüsterte eine hinterlistige Stimme in ihm.
    Tool knurrte bei dem Gedanken. Ich habe noch nie einen Kampf verloren.
    Aber hast du jemals einen gewonnen?

2 5
    Die Soldaten zu verfolgen, war nicht schwer. Mit all ihren Gefangenen hinterließen sie deutliche Spuren.
    Mahlia folgte ihnen quer durch den Dschungel.
    Ihre Spur verlief über eine der alten Betonstraßen, die inzwischen mit Erde, Blättern und Kletterpflanzen bedeckt waren. Junge Bäume wuchsen in Rissen im Beton, aber die Straße war trotzdem offener und breiter als die Pfade im Wald, und die Vegetation war weniger dicht. Hin und wieder führte die Straße über Betonbrücken– Überbleibsel alter Autobahnen und Zubringer aus der Zeit, als es noch Autos gegeben hatte und Benzin, das man verbrennen konnte.
    Auf den Brücken blieb Mahlia stehen, schaute sich um und suchte nach Zeichen der Soldaten. Aber obwohl sie so schnell lief, wie sie konnte, schien die Kompanie doch schneller zu sein. Sie musste auch immer wieder Halt machen und nach etwas zu essen suchen.
    Ihre Füße waren wund vom Laufen, und sie hatte Durst. Sie trank brackiges Wasser und blieb ständig wachsam. Manchmal hörte sie in der Ferne das Donnern der 999er-Geschütze, das Dröhnen der versunkenen Städte. Und sie fürchtete sich vor dem, was vor ihr lag.
    Trotzdem lief sie weiter, weil sie wusste, dass ihr Gewissen sonst nie wieder Ruhe geben würde. Zugleich wusste sie aber auch, dass sie genau das tat, worüber sich ihr Vater immer lustig gemacht hatte. Die Menschen der versunkenen Städte waren dumm, hatte er gesagt. Sie dachten nicht strategisch. Sie stürzten sich blind in Rache, Krieg und Tod, auch wenn das alles überhaupt keinen Sinn hatte.
    Mahlia erinnerte sich, wie ihr Vater seine Kampfstiefel ausgezogen und dabei die versunkenen Städte und die nie endende Gewalt verflucht hatte. Er hatte seinen Körperpanzer abgelegt, und ihre Mutter hatte mit sorgenvoller Miene seine Wunden gereinigt.
    Â» Das sind alles Tiere. Hunde, die sich gegenseitig zerfleischen. «
    Â» Nicht alle « , hatte ihre Mutter ihn beruhigt, während sie ihm in die Badewanne geholfen hatte. » Nur weil du schon ein paar Jahre hier lebst, heißt das nicht, dass du alles über uns weißt. «
    Â» Tiere « , wiederholte er. » Du verteidigst diese Stadt nur, weil du nichts Besseres kennst. Du weißt nicht, wie schön das Leben sein kann. Wenn du Peking oder die Insel Schanghai gesehen hättest, würdest du es wissen. In China sind wir nicht so. Wir sind keine Hunde, die sich gegenseitig die Kehlen herausreißen. Wir entwerfen Pläne. Wir denken vorausschauend. Wir arbeiten zusammen. Aber ihr? « Er schnaubte. » Wenn ihr einen Funken Verstand hättet, würdet ihr nicht so viel Zeit darauf verschwenden, euch gegenseitig Verräter zu schimpfen und umzubringen, sondern lieber höhere Deiche bauen. « Er schloss die Augen in dem dampfenden Bad. » Shah. Dumm seid ihr. Ihr alle. Zu dumm, das Wasser zu trinken, das euch angeboten wird. «
    Am zweiten Tag kreisten die Kojwölfe sie ein.
    Sie hatte die Ruine einer Kleinstadt entdeckt und in den Trümmern ein paar ausgeblichene Sandalen gefunden. Sie dachte an die Straßen der versunkenen Städte, die von Eisendraht, Glasscherben und Steinen bedeckt waren. Ihre Füße waren zwar einiges gewöhnt, aber über Glasscherben konnte sie damit sicher nicht laufen.
    Sie setzte sich hin und zog die Sandalen über. Doch die Plastiksohlen brachen, als sie damit probeweise umherlief, deshalb warf sie sie wieder weg. Sie waren einfach zu alt und in der Sonne brüchig geworden. Darüber hinaus entdeckte sie noch eine Plastikkanne, mit der man Wasser transportieren konnte, und ein Stück Seil.
    Als sie sich aufrichtete, waren die Augen des Kojwolfs wie Lampen auf sie gerichtet.